F.I.N.D. 2015: Milo Rau blättert in „Civil Wars“ durch Familienalben, vier Saddam Hussein-Doubles irrlichtern durch eine Performance

Ursprünglich hatte Milo Rau etwas ganz Anderes vor. Er wollte in The Civil Wars der Frage nachgehen, warum Belgien „Hauptlieferant für europäische Dschihadisten“ ist: In absoluten Zahlen zieht es zwar mehr junge Briten, Franzosen und Deutsche in die Terror-Camps des Nahen Ostens, aber prozentual gesehen ist der Anteil radikalisierter Kämpfer, die sich von ISIS und Co. rekrutieren lassen, nirgends in Europa höher als in dem kleinen Königreich: Das wäre ein hoch interessanter Stoff für das Eröffnungs-Wochenende des Festivals für internationale Dramatik an der Berliner Schaubühne gewesen!

Während der Recherchen im dschihadistischen Umfeld warf Milo Rau sein Konzept über den Haufen. Das Interview mit Joris, der auf Druck seines Vaters aus Syrien zurückkehrte, bildet nur den Anfangs- und Endpunkt eines Abends, der auf verschlungenen Pfaden ganz anderen Themen folgt. Im Zentrum stehen die vier Schauspieler (je zwei aus Belgien und Frankreich) Karim Bel Kacem, Sara De Bosschere, Sébastien Foucault, Johan Leysen und ihre Familiengeschichten. Sie nehmen abwechselnd in einem recht abgenutzt wirkenden, mit Nippes zugestellten Wohnzimmer Platz, das auf der Rückseite einer Theaterloge im Barock-Stil eingerichtet wurde, und filmen sich gegenseitig, während sie sich Ausschnitte ihrer Biographien erzählen.

Der berühmte Anfang von Leo Tolstois Anna Karenina erweist sich auch hier als zutreffend: »Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise.«. Ein wiederkehrendes Leitmotiv dieser oft stark zerfasernden und ausfransenden Lebensbeichten ist die Sehnsucht nach abwesenden Vätern. Nach Vätern, die dem Alkoholismus verfallen sind, die an Depressionen erkrankt sind oder jung bei einem Autounfalls ums Leben gekommen sind. In fünf Kapiteln kreisen die autobiographischen Erzählungen der vier Schauspieler außerdem um die Frage, wie sinnvolles politisches Engagement heute aussehen könnte – einige Jahrzehnte nach manchen geplatzten Illusionen und revolutionären Träumen der Eltern, die sich in der 68er-Studenten-Rebellion engagierten und in den diversen konkurrierenden maoistischen und trotzkistischen K-Gruppen der 70er Jahre aufrieben. Oder sie befassen sich mit ihren Erfahrungen in der Kunst, mit berühmten Regisseuren wie Peter Brook und Jean-Luc Godard.

Diese kurze Beschreibung macht schon deutlich: Sehr unterschiedliche Diskurse werden hier aneinandergereiht. Die beiden Ausschnitte aus den Salafisten-Interviews am Anfang und Ende dienen kaum noch als Klammer, sondern bilden eher einen losen Rahmen für die Couch-Erinnerungen.

Dennoch: Auch wenn sich The Civil Wars weit von seiner Ursprungsidee entfernt haben und die Ausführungen der Schauspieler streckenweise langatmig und an der Grenze zur Banalität daherkommen, gelingt es Milo Rau und seinen vier Akteuren doch immer wieder, das Publikum einzufangen. In dem mehr als zweistündigen, von klassischer Musik untermalten Wort-Teppich aus autobiographischen Erlebnissen leuchten prägnante Formulierungen auf. In diesen Momenten spiegeln sich in den Einzelschicksalen allgemeingültigere Erfahrungen. Dafür lohnt sich der Theaterabend doch noch.

The Civil Wars. – Konzept, Text und Regie: Milo Rau. – Mit: Karim Bel Kacem, Sara De Bosschere, Sébastien Foucault, Johan Leysen. – Ca. 2 h 15 min ohne Pause. – Premiere: 27. August 2014 in Zürich

Einen schwächeren Eindruck hinterließ Saddam Hussein – A Mystery Play von Yonatan Levy aus Tel Aviv, das während des F.I.N.D.-Eröffnungs-Wochenendes im Schaubühnen-Studio zu sehen war. Die knapp einstündige Performance mit vier Akteuren hat ihren Ausgangspunkt bei einer in vielen politischen Reportagen beschriebenen Kuriosität: der irakische Diktator Saddam Hussein umgab sich mit Doubles, die ihn bei öffentlichen Auftritten vertreten und potentielle Attentäter verwirren sollten. Die vier Schauspieler und Tänzer ähneln sich aber weder untereinander noch dem längst gestürzten Politiker.

Es wird nicht ganz klar, warum Levy und sein Team sich zwölf Jahre nach dem Irak-Krieg noch mal mit den Akteuren befassen, die damals die Welt in Atem hielten: Saddam Hussein gegen George W. Bush (mit seinem Vize-Präsidenten Dick Cheney und seinem einflussreichen Berater Karl Rove im Hintergrund). Das Programmheft kündigte eine „Inszenierung zwischen Satire und Ritual, in absurden Szenen, verklärend-verwirrenden Texten, liturgischen Gesängen und aberwitzigen Choreographien“ an.

Stattdessen erlebte das Publikum eine recht müde vor sich hinplätschernde Szenen-Folge, die noch dazu erstaunlich eindimensional blieb. Der Konflikt wurde monokausal auf die Gier nach Öl reduziert, weshalb sich die Schauspieler auch mit schwarzer Farbe übergießen und einschmieren mussten. Wenn man schon beschließt, sich mit diesem Konflikt zu befassen, wäre es doch viel interessanter gewesen, auch andere Facetten auszuleuchten: das Verhältnis von George W. Bush zu seinem Vater, der bereits 1991 in einen ersten Irak-Krieg mit Saddam Hussein verstrickt war; oder die religiösen Begriffe, die in den Reden des von evangelikalen Strömungen stark geprägten US-Präsidenten oft wiederkehrten.

Saddam Hussein – A Mystery Play. – Text und Regie: Yonatan Levy. Von und mit: Amir Farjoun, Nir Shauloff, Saar Székely, Yonatan Levy. – F.I.N.D. #15-Gastspiel von HaZira Performance Art Arena (Israel). – 1 Stunde ohne Pause

Festival Internationale Neue Dramatik 2015 vom 17. bis 26. April an der Berliner Schaubühne

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