Paisajes para no colorear

Für zartbesaitete Gemüter ist die chilenische Gruppe „La Re-sentida“ um Regisseur Marco Layera nicht zu empfehlen. Das Ensemble ist bekannt für lautstarke, wütende Auftritte und seinen brachialen Stil. Beim FIND-Festival sind sie mittlerweile Stammgäste, in Berlin waren sie jedoch auch schon am HAU zu erleben.

Vergleichsweise zurückhaltend beginnt „Paisajes para no colorear“, die aktuellste Arbeit der Chilenen, die im vergangenen Jahr in Santiago de Chile Premiere hatte und nun erstmals in Europa zu erleben war. Statt der bekannten Gesichter aus dem 2008 gegründeten Ensemble treten neun Teenagerinnen zwischen 13 und 17, die gecastet wurden, um stellvertretend über Gewalt, Mobbing und Diskriminierung zu berichten.

Stilistisch und thematisch erinnert die Arbeit von Layera an den Ansatz von Yael Ronen. Autobiographisches und exemplarische Missbrauchsfälle werden zu kurzen Szenen verwoben und mit Musik-Einlagen abgetrennt. Viele der Erfahrungen, über die sich die Mädchen beklagen, sind typische Pubertäts-Erfahrungen, die nicht auf die chilenische Gesellschaft begrenzt sind: Das Mobbing und Slut-Shaming gegen eine Schülerin, die in einer Ecke kauert und konzentriert in die Kamera spricht, während ihre Anklage auf der großen Leinwand übertragen wird, könnte so auch an deutschen Schulen in der Generation Facebook passieren. Auch die Abrechnung mit dem Vater, der sich hinter der Zeitung verschanzt, seine Frau schlecht behandelt und die Tochter ignoriert, zeigt Zustände, wie sie im deutschen Kleinbürgertum durchaus verbreitet waren und z.B. von Rainer Werner Fassbinder oft kritisiert wurden. Ein lesbisches Mädchen kritisiert, dass sie von ihren Eltern und der Gesellschaft in ein Korsett starrer Normen gepresst wird.

Drastischer und härter wird der Abend, als eine Sexpuppe herumgereicht wird und eine Spielerin von der Vergewaltigung einer 10jährigen durch ihren Stiefvater berichtet. Die anderen schlüpfen in altmodische Gouvernanten-Kleider und fordern sie auf, dass sie auf keinen Fall abtreiben darf. Bis vor kurzem hatte Chile eines der strengsten Abtreibungsverbote weltweit. Erst 2017 nach Probenbeginn ließ der Oberste Gerichtshof mit knapper Mehrheit die Abtreibung in seltenen Ausnahmen zu, falls wie hier eine Vergewaltigung vorliegt oder das Leben der Schwangeren bedroht ist.

Beklemmend wird der Abend vor allem durch das Re-Enactment des Todes von Lisette Villa. Sie wuchs in einem Erziehungsheim auf, wurde von einer Aufseherin zunächst fixiert und dann mit der geballten Wucht ihrer 90 kg erstickt. Die chilenischen Mädchen spielen diese Szene mit brutaler Eindringlichkeit nach. Die Wortführerin befiehlt Ange, sich hinzulegen. Alle anderen sollen ihre Pullover ausziehen, sie mit der „Sushi“-Methode darin einwickeln und über den Boden rollen. Alle Spielerinnen setzen sich gemeinsam auf Ange, die zunächst noch entspannt wirkt, unter der Last zunehmend japst und schließlich minutenlang wie leblos daliegt, während ihre Mitspielerinnen betroffen starren, was sie hier angerichtet haben. Im Publikum kullerten einige Tränen und spätestens jetzt war klar, warum „La Re-Sentida“ der Ruf vorauseilt, bis an die Grenzen zu gehen.

Der 90 Minuten kurze Abend endet nach einer Pussy Riot-Hommage mit einem feministischen Manifest, das die Teenagerinnen von der Rampe ins Publikum sprechen: eine Anklage gegen toxische Männlichkeit, gegen Übergriffe und patriarchale Strukturen. In Berlin ist es selten zu erleben, dass ein Publikum so begeistert zum Schlussapplaus aufspringt wie die überwiegend sehr jungen Zuschauer*innen bei diesem Festival. Auch die Deutschlandfunk-Kritikerin Barbara Behrendt schwärmte von der feministischen Energie und stufte „Paisajes para no colorear“ als bisheriges Festival-Highlight ein.

In seiner berechtigten Wut wird das Stück allerdings ausgerechnet an der Schlüsselstelle dramaturgisch holprig: Der Mord an Lisette Villa, der auch Auslöser für die Recherche war, wurde von keinem Mann, sondern einer Erzieherin verübt. Trotz dieser Schwachstelle ist „Paisajes no colorear“ ein bemerkenswertes Gastspiel aus Lateinamerika, einem Kontinent, der zwischen Rebellion und Sehnsucht nach autoritären Strukturen hin und hergerissen scheint.

Trailer

Bild: Nicolás Calderón

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