Allein schon durch seine schiere Länge ist diese musikalische Zeitreise durch die US-amerikanische Geschichte von der Unabhängigkeits-Erklärung von 1776 bis zur Gegenwart ein ungewöhnliches Theatererlebnis.
Drag Queen Taylor Mac lädt zu vier langen Abenden ein, jeder davon zieht sich knapp 6 Stunden und teilweise bis weit nach Mitternacht. Selbst für Castorf- und Volksbühnen-gestählte Zuschauer*innen ist das eine Herausforderung.
Die Performance gleicht schon am ersten Abend einer Achterbahntour: furchtbar alberne Mitmachspielchen stehen neben berührenden, sehr authentischen queeren Momenten. Zunächst zu den Tiefpunkten: Taylor Mac schreckt vor nichts zurück, judy (mit diesem geschlechtsneutralen Pronomen will Taylor Mac angesprochen werden) fordert das Publikum zu einer Polonaise auf, an deren Ende sich die Zuschauer*innen aus der zweiten Reihe wesentlich weiter hinten wiederfinden. Schluss mit den Privilegien, kommentiert judy Zeremonienmeister*in giftig. Nach vier Stunden steht eine Mischung aus Reise nach Jerusalem, Blinde Kuh und Weintrauben-Flirtspielchen auf dem Programm, die viel besser zu einer alkoholisierten Flaschendreh-Party für Teenager*innen passen würde als ins Haus der Berliner Festspiele, wo diese Show ihre Europa-Premiere feiert.
Dass sich der Abend trotz solch skurriler Momente dennoch lohnt, liegt an der Ausstrahlung von Taylor Mac. Jede Stunde durchmisst judy ein anderes Jahrzehnt, schlüpft in ein anderes Kleid, vor dem die Friedrichstadt-Palast-Revue-Girls nur neidvoll erblassen können und plaudert sich durch die US-Geschichte, die sie konsequent aus der Geschichte der Minderheiten erzählt. Die Show setzt einen Kontrapunkt zu den patriotischen Hollywood-Leinwandepen und erzählt aus der Perspektive der Native Americans, der Schwarzen, der Frauen-Bewegung oder queerer Menschen.
Taylor Mac liefert genau den Glamour und die Sentimentalität, die René Pollesch und Fabian Hinrichs in ihrer blassen Friedrichstadt-Palast-Revue nur behaupten. Die kleinen Anekdoten, die Taylor Mac aus New Yorker Bars einstreut, sind wunderbar authentisch, oft sehr erfrischend und stets sehr frech.
Bei all dem Spektakel sind aber natürlich auch die öden Längen zu überstehen, die wir von Castorf kennen. Der Unterschied: Man kann jederzeit rausgehen, an der Bar trinken und essen und später wieder einsteigen. Ein noch wichtigerer Unterschied: In seiner beschwingten Queerness wirkt die Taylor Mac-Show wesentlich fröhlicher und zeitgemäßer als die auf der Stelle tretenden Brüllduelle, zu denen der ehemalige Volksbühnen-Patriarch seine Spieler*innen animiert.
Am zweiten Abend nahmen die Längen deutlich überhand. Zum Amerikanischen Bürgerkrieg und dem Kampf gegen Sklaverei fiel Taylor Mac zu wenig ein. Die ersten Stunden des zweiten Teils schleppen sich öde dahin. Über mehrere Runden zieht sich der Wettstreit zwischen Liedern des reaktonären Stephen Foster und des progressiveren Walt Whitman dahin, jede Runde endet damit, dass Taylor Mac das Publikum animiert, sich gegenseitig mit Pingpong-Bällen zu bewerfen.
Kreativer geht es in der zweiten Hälfte des zweiten Abends weiter: als bewusst sehr trashiges Marsmännchen-Musical „The Marskado“ wird die Operette „The Mikado“ von Gilbert und Sullivan umgearbeitet, zieht sich aber auch zu sehr in die Länge, als dass sie überzeugen könnte.
Zu selten lässt Taylor Mac am zweiten Abend judy Charme aufblitzen, der den ersten Teil so unterhaltsam machte. Eines der wenigen Glanzlichter ist die Parodie einer sturzbetrunkenen Theater-Mäzenin, die judy empfahl, doch nicht immer so politisch zu sein, sondern lieber einfach nur schöne Lieder zu singen. Dann sei auch eine große Karriere am Broadway möglich. Hervorzuheben sind noch ein paar kritisch-bissige Anmerkungen zum Taylorismus, der die Industrialisierung und den Aufstieg des Kapitalismus begleitete.
Enttäuschend war der wenige Minuten kurze Gastauftritt von „Peaches“, der sich darin erschöpfte, dass der Stargast mit Plumpudding eingerieben wurde.
Am dritten Abend wurde die Show wieder unterhaltsamer und facettenreicher. Taylor Mac mischte das Publikum mehrfach auf, um die gewaltigen sozialen Umwälzungsprozesse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu verdeutlichen, die in diesem dritten Kapitel verhandelt wurden. Gleich zu Beginn führt Taylor Mac die Menschen von den billigen Plätzen auf dem Balkon ganz nach vorne: wie die Migrant*innen, die zur vorletzten Jahrhundertwende in die Mietskasernen von New York strömten, versuchen sie ihr Glück in den vorderen Reihen. Als der Plot beim Ausbruch des ersten Weltkriegs angekommen ist, werden alle Männer unter 40 zum Krieg eingezogen/auf die Bühne gebeten und Taylor Mac reflektiert über das erstarkende Selbstbewusstsein der damaligen Frauenbewegung.
Am sinnfälligsten werden die Umwälzungen vor Augen geführt, als die Drag Queen und ihre „Dandy Minions“ (durchs Publikum und über die Bühne wuselnde Performer*innen aus New York und Berlin) den Intendanten der Berliner Festspiele und alle anderen weißen Besucher*innen auf den besten Plätzen im Zentrum aufscheuchen. Die Weißen verlassen die Innenstädte, ziehen in die gepflegten, sehr normierten Suburbs und werden deshalb symbolisch auf die Stehplätze am Rand verbannt. Die wenigen People of Colour können sich in der Mitte breitmachen, während der Rest des Publikums so dicht gedrängt steht, dass sie so wenig Raum zur Entfaltung und zum Atmen bleibt, wie es Taylor Mac durchmachte, als judy in den amerikanischen Suburbs aufwuchs. Erst als die Jugendbewegung und die Queers die verödenden Innenstädte zurückerobern, darf das weiße Publikum mit Party-Jubel zurück ins Zentrum strömen.
Auch bei der Auswahl der Gastauftritte hatte Taylor Mac diesmal ein besseres Händchen: Katharine Mehrling, die ihre tolle Stimme ansonsten in der Komischen Oper oder gleich nebenan in der Bar jeder Vernunft präsentiert, und ein syrischer Sänger lockern den Abend mit kleinen Soli auf. Der Liebling des Publikums ist allerdings die 71jährige Hannelore, die sich als älteste Zuschauerin meldet, ihre Handtasche in die Ecke pfeffert und einen beeindruckenden Tanz aufführt.
Im dritten Kapitel erklärt Taylor Mac auch zum ersten Mal den Grund für das Pronomen „judy“ ausführlicher: natürlich ist es auch eine Hommage an Judy Garland, aber vor allem suchte Taylor Mac ein Wort, das man nicht abfällig-augenrollend nachäffen kann, ohne dabei ziemlich lächerlich zu wirken.
Eine echte Achterbahnfahrt war auch der vierte und letzte Abend, der erstmals ausverkauft war. Nach einem lauen Aufguss von Spielchen aus dem dritten Kapitel tastet sich Taylor Mac langsam an die schwarze Bürgerrechtsbewegung heran. Symbolisch reenactet das Publikum die rassistische Diskriminierung in den Bussen der 1950er Jahre, gemeinsam feiern die Performer*innen und das Publikum den Marsch auf Washington mit Songs von Nina Simone oder Bob Dylan.
Bei Stonewall ist Taylor Mac endlich ganz in judy Element: die Befreiung von 1968 und die Emanzipation der Homosexuellen wird zur großen Party zum Mitsingen und Mittanzen bei „Heroes“ von Van Morrison oder „Gloria“ von Van Morrison. Die Stimmung schlägt komplett um, als die AIDS-Krise der 1980er und frühen 1990er Jahre. Mit sehr leisen Tönen und heruntergedimmtem Licht singt Taylor Mac drei Lieder, die vom Sterben an der Pandemie, erzählen: mal mit der Melancholie eines Songwriters, mal mit der Wut einer Punk-Rock-Band. Dies schlägt die Brücke zum Engagement der NGO „Act up!“, die sich für bessere Prävention und Versorgung der Kranken einsetzte und bei der sich Taylor Mac politisierte.
Sehr kämpferisch ist die letzte Stunde, zu der alle lesbischen Zuschauerinnen auf die Bühne gebeten werden, singen und tanzen und am Ende ein Dyke Manifest für mehr lesbische Sichtbarkeit verlesen. Taylor Mac und judy Rock-Gitarristin stimmen einen Protestsong an, dass sie sich eine schwarze Frau als US-Präsidentin wünschen, die Kritik am aktuellen Amtsinhaber zog sich natürlich durch die gesamten 24 Stunden, auch wenn er kaum namentlich genannt wurde.
Das wäre ein würdiges Ende für die Zeitreise gewesen. Taylor Mac hängt aber noch eine letzte Stunde dran. Ganz allein sitzt judy auf der Bühne und stimmt auf der Ukulele nach all den Hits des Abends einige selbstkomponierte Lieder an. Mitternacht ist schon vorbei und wie Castorf findet und findet Taylor Mac einfach kein Ende. Bis judy sich still verabschiedet, während das Publikum noch weiter „You can lie down or get up and play“ singt. Dass der Saal nach so vielen Stunden immer noch so voll besetzt ist und die Zuschauer*innen bis zum Schluss mitgehen, war zuletzt bei „Dionysos Stadt“ der Münchner Kammerspiele zu erleben.
Der Erfolg dieses Gastspiels sollte die Berliner Festspiele ermutigen, in nächster Zeit wieder mehr internationale, außergewöhnliche Produktionen einzuladen. Das kam in den vergangenen Jahren, seit die Festivals „Spielzeit Europa“ und „Foreign Affairs“ eingestellt wurden, etwas zu kurz.
Die Internationalität ist Markenzeichen und Herzstück der Lessingtage am Thalia Theater Hamburg, wo Taylor Mac knapp dreieinhalb Jahre nach dem Berliner Spektakel an zwei Abenden gastierte. Statt des 24 Stunden-Marathons gab es eine zweistündige Best of-Version zum Reinschnuppern und eine 15minütige Zugabe plus Shanty-Chor. Judy gelang es auch in dieser Version für die „fishheads“, wie Taylor Mac immer wieder betonte, erstaunlich gut, die Essenz des stark gekürzten Abends vorzustellen. Nach der Wahlniederlage von Trump sprach Judy auch den Namen des Ex-Präsidenten aus, der für das andere Amerika steht, von dem sich Taylor Mac mit der Geschichte der Befreiungskämpfe der Minderheiten so eloquent abgrenzt. Besonders oft fällt in der neuen Fassung natürlich der Name des russischen Präsidenten, dessen Angriffskrieg gegen die Ukraine judy anprangert.
Durch das Publikum, das am Thalia wesentlich älter und bürgerlich-gesetzter ist als damals in Berlin, tigert Taylor Mac auch diesmal wieder und freut sich daran, die Nervosität der Zuschauer*innen zu riechen, wer wohl als nächster auf die Bühne gezerrt wird. An der Alster ist niemand dabei, der es mit Hannelores Charisma aufnehmen könnte. Die Pingpong-Bälle fliegen auch diesmal durch den Saal, aber die vielen ausufernden, zum Teil recht albernen Mitmachspiele sind gestrichen. Dafür dominieren die leiseren Töne in dieser gelungenen Best of-Version.
Bilder: Berliner Festspiele/Eike Walkenhorst