Kurz vor Weihnachen hatte am Volkstheater München Philipp Arnold mit seiner Adaption des essayistischen Romans „Wer hat meinen Vater umgebracht?“ von Édouard Louis Premiere, über die ich hier geschrieben habe.
Die Namensvetter vom Volkstheater Wien waren aber noch ein paar Wochen schneller und sicherten sich die deutschsprachige Erstaufführung, die am 15. November 2019 stattfand und im Corona-Online-Spielplan des Hauses abrufbar war.
Sowohl Christina Rasts Wiener Inszenierung als auch Philipp Arnolds Münchner Bearbeitung setzen auf das Prinzip, dass es keine festen Rollen-Zuschreibungen gibt, sondern die Spieler*innen abwechselnd Vater, Mutter, Bruder und Ich-Erzähler verkörpern.
Während sich der rassistische, homophobe Vater, ein Prototyp toxischer Männlichkeit, in München hinter grimmig-aggressiven Masken verbarg, betont die Wiener Inszenierung von Beginn stärker eine andere Facette des Buchs, nämlich die Ohnmacht und Hilflosigkeit des Vaters von Édouard Louis. Die Spieler*innen kreisen um einen viel zu großen Tisch, so dass sie sich ständig strecken müssen und in Anspannung sind. An der Stirnseite hängt der Vater als kraft- und mutlose Puppe, vom Leben gezeichnet kann er sich kaum aufrecht halten und kippt mit dem Kopf auf die Tischplatte. Rasts Wiener Inszenierung betont weniger die Kindheitstraumata und die Furcht vor dem Vater, die Louis bereits in seinem autobiographischen Debüt „Das Ende von Eddy“ thematisierte, sondern stellt das Entsetzen darüber in den Mittelpunkt, was den Vater so zerbrochen hat, dass er gegen sich und andere so hart wurde und nun nur noch ein körperliches und seelisches Wrack ist.
Von der Wiener „Wer hat meinen Vater umgebracht?“-Inszenierung bleiben vor allem zwei Szenen in Erinnerung, die den End- und Höhepunkt des knapp 90minütigen Abends bilden. Wir erleben Édouard Louis als Bestseller-Autor und Talkshow-Gast, im Pariser intellektuellen Establishment angekommen und bestens vernetzt.
Bei jeder Frage des Moderators hallen die Beschimpfungen und Kränkungen durch seinen Kopf, die er als Kind erlitten hat. Sebastian Klein, derjenige aus dem fünfköpfigen Ensemble, der Louis äußerlich am meisten ähnelt, rutscht unruhig auf seinem Stuhl herum, während die restlichen Spieler*innen im Hintergrund fratzenhafte Masken vor ihre Gesichter halten und hämisch „Eddy Bellegueulle“, den wahren Namen des Autors rufen, den Louis abgelegt hat.
In der zweiten zentralen Szene sind die fünf Spieler*innen frontal vor dem Publikum aufgereiht und klagen die Einschnitte ins soziale Netz an, für die französische Staatspräsidenten in den vergangenen Jahrzehnten verantwortlich waren. Während Jonathan Hutter diese Passage in München als wütend-atemlose Solo-Nummer performte, steht dem Publikum der Wiener Inszenierung eine Phalanx von Politikern gegenüber, die zwar unterschiedlichen Parteien angehören, aus der Sicht von Louis aber alle dazu beigetragen haben, dass sich sein Vater seine Gesundheit ruiniert hat.
Sehenswert sind beide Inszenierungen der Volkstheater in Wien und München. Eine dritte Inszenierung war schon in Arbeit: beim FIND-Festival an der Schaubühne sollte Édouard Louis selbst auf der Bühne stehen. Thomas Ostermeier, der im vergangenen Jahr bereits „Im Herzen der Gewalt“ inszenierte, hatte ein Try-Out auf der Studio-Bühne angekündigt, das jedoch bisher durch den Corona-Shutdown verhindert wurde, aber hoffentlich nachgeholt werden kann.
Bilder: © www.lupispuma.com / Volkstheater