Online-Berlinale 2021, Tag 1

Im Corona-Ausnahmezustand findet die Berlinale in diesem Jahr zweistufig statt. Das Publikum muss sich noch gedulden, ob der Plan aufgeht, dass die ausgewählten Filme im Juni gezeigt werden können. Presse, Bären-Jurys und Filmbranche können die meisten Werke des aktuellen Berlinale-Jahrgangs bereits in der ersten März-Woche fünf Tage lang online sichten.

Ich möchte in den kommenden Tagen jeweils einige bemerkenswerte Filme vorstellen. Festival-Stammgast Hong Sangsoo ist bereits zum 4. Mal im Wettbewerb vertreten, zuletzt langweilte er im vergangenen Jahr mit „The woman who ran“. Wie im Fließband produziert der südkoreanische Regisseur seine elegisch-mäandernden, recht kurzen Werke. Sein mittlerweile 24. Film „Introduction/Inteurodeoksyeon“ dauert auch nur 66 Minuten und ist eine Collage kleiner Miniaturen in strengem Schwarz-Weiß. Das Ensemble um Hong Sangsoos Muse Kim Minhee qualmt und schweigt sich durch lange Einstellungen.

Thematisch geht es diesmal um eine junge Generation, die unter ihren fürsorglich-dominanten Eltern leidet. Die Akademiker-Mütter und -Väter haben sehr genaue Vorstellungen, was ihre Sprösslinge mit ihrem Leben anfangen sollen, und stellen mit ihrem gut geknüpften Netzwerk entsprechend die Weichen. In kleinen Szenen zwischen Seoul und Berlin erzählt Hong Sangsoo von den Versuchen der Kinder, sich freizukämpfen.

Die Fans von Hong Sangsoo werden auch dieses Werk lieben, das die Berlinale beweihräuchernd als „poetisch-philosophisches Glanzstück“ anpries. Es handelt sich jedoch nur um eine Fingerübung als nächstes Werkstück aus der Akkord-Produktion von Hong Sangsoo, mit der er sich fest in seiner Nische des Weltkinos eingerichtet hat.

Viele Presse-Kritiken waren dementsprechend verhalten. Eine Jury-Mehrheit zählt allerdings zu den Hong-Fans und verlieh ihm einen Silbernen Bären für das beste Drehbuch.

Eine tragikomische Liebesgeschichte erzählen Maria Schrader und ihr Co-Autor Jan Schomburg. „Ich bin dein Mensch“ ist der erste von vier deutschen Wettbewerbs-Beiträgen. Die ehrgeizige Archäologin Alma (Maren Eggert) ist der Prototyp der rationalen Wissenschaftlerin. Da sie neben den Keilschrift-Forschungen im Pergamon-Museum und nach der Trennung von ihrem Ex (Hans Löw) kein nennenswertes Privatleben hat, ist sie die ideale Probanden für die Testreihe einer High-Tech-Firma, die ihre humanoiden Roboter optimieren sollen. Die Roboter sind so programmiert, dass sie die idealen Alltags-Helfer und Beziehungspartner sind: sie lesen dem Menschen, nach dessen Wünschen und Vorlieben sie gestaltet sind, jeden Wunsch von den Augen ab.

Der Film basiert auf einer kürzlich in einem Suhrkamp-Sammelband erschienenen Erzählung von Emma Braslavsky und lebt vom Zusammenspiel von Maren Eggert, deren Figur sich zunächst hinter Abwehrmechanismen verschanzt, dann aber bemerkt, dass sie sich doch in die humanoide Maschine verliebt, und ihrem Partner Dan Stevens, der einen perfekten Gentleman mit britischem Akzent mimt. In einer schönen Nebenrolle taucht Sandra Hüller als dauerlächelnde Kundenberaterin der Sci-Fi-Dienstleistungsfirma auf. Ihr Schlagabtausch mit Maren Eggert ist einer der amüsanten Momente dieses Films.

Der feine lakonische Witz überzeugte auch die Jury, sie zeichnete Maren Eggert, die hauptberuflich am Deutschen Theater Berlin engagiert ist, mit einem Silbernen Bären, dem neuen Unisex-Preis für die beste Schauspielleistung aus.

Dennoch kann „Ich bin dein Mensch“ nicht überzeugen: Zu oft ist der Film von süßlicher Klaviermusik unterlegt und an vielen Stellen auch zu vorhersehbar erzählt. Schrader/Homburg liefern wie schon bei ihrer ersten Zusammenarbeit „Vor der Morgenröte“ Wohlfühl-Gefühlskino für das Arthouse-Segment.

Der dritte Wettbewerbs-Beitrag des ersten Tags war die französisch-kanadisch-libanesische Co-Produktion „Memory Box“. Dieses Drama ist klassisches, politisch engagiertes Festival-Kino, wie es auch Dieter Kosslick in vergangenen Jahrehn oft stolz präsentiert hat. Drei Generationen – Großmutter Teta, Mutter Maia und Teenager-Enkelin Alex – stehen stellvertretend für die unterschiedlichen Wege, die Traumata des libanesischen Bürgerkriegs zu verarbeiten.

Während der ersten Stunde erleben wir, wie Alex (Paloma Vauthier) ihre Nase fasziniert in die Tagebuch-Notizen, Briefe und Fotoalben in der titelgebenden großen Kiste steckt: Mutter Maia (Rim Turki) pflegte in den 1980er Jahren eine Brieffreundschaft zu ihrer Freundin Liza, die mit ihrer Familie nach Paris emigriert war, und erzählte ihr von einer Jugend im Krieg zwischen der Trauer über den Tod von Bruder und Vater und der ersten Liebe zu Raja. Da Liza nun tödlich verunglückt ist, wurde der Nachlass an Maia geschickt. Großmutter Teta (Clémence Sabbagh) würde die Vergangenheit am liebsten verdrängen, Alex stürzt sich dagegen gierig auf den Erinnerungs-Schatz und postet fleißig Schnipsel an ihre Freundinnen.

Im Mittelteil lüftet das Regie-Duo Joana Hadjithomas und Khalil Joreige nach und nach einige verdrängte Geheimnisse dieser Familie. Zu tollem 80er Jahre-Soundtrack mit Ohrwürmern wie „Fade to Grey“ von „Voyage“ oder „One way or another“ von Blondie gelingen in diesem stärksten Abschnitt des Films eindringliche Passagen, bevor es sich Hadjithomas/Joreige zu einfach machen und den Film-Plot in einem allgemeinen Wohlgefallen und der Happy-end-Versöhnung der Figuren auflösen.

Das Regie-Duo von „Memory Box“ webte viel Autobiographisches in ihr fiktionales Werk hinein, nutzte eigene Fotos, Tonbänder und Tagebucheinträge. Der libanesische Bürgerkrieg ist schon seit zwei Jahrzehnten das zentrale Thema von Joana Hadjithomas & Khalil Joreige, die bisher aber vor allem Dokumentarfilme und Kunstinstallationen zeigten, wofür sie auch 2017 mit dem Marcel Duchamps-Preis ausgezeichnet wurden.

© Türksoy Gölebeyi / Asteros Film

Im Panorama überzeugte die türkisch-rumänische Coproduktion „Brother´s Keeper/Okul Tıraşı“ von Ferit Karahan. Das Drama schildert eindringlich die Schikanen und Strafen, denen die Jungen in einem Internat in den kurdischen Bergen ausgesetzt sind. Als Memo eines Morgens bewusstlos im Bett liegt, setzt am Krankenbett das Schwarze Peter-Spiel ein. Die Erzieher und Lehrer schieben sich gegenseitig die Schuld zu, tatsächlich muss sich hier fast jeder ein Fehlverhalten ankreiden lassen.

Was dem Jungen passiert ist, wird allerdings erst ganz am Ende dieses klug gebauten Psychodramas klar, in dem der Regisseur autobiographische Internats-Erlebnisse verarbeitet. Auch die FIPRESCI-Kritiker-Jury war von diesem Film überzeugt und zeichnete ihn als bestes Werk in der Panorama-Sektion aus.

Ein visuell eindrucksvoller, rätselhafter Trip ist das Debüt „Vi/Taste“ des Vietnamesen Lê Bảo. Fast ohne Worte, mit den für das Experimental-Kino typischen quälend langen Einstellungen, aber auch mit überraschenden Ideen erzählt dieser Film von einem nigeranischen Fußballer, der in den Slums von Saigon in einer ärmlichen Hütte gestrandet ist und dort mit vier Frauen und einem Schwein zusammenlebt.

© E&W Films, Le Bien Pictures, Deuxième Ligne Films, Petit Film, Senator Film Produktion

Dieses Erstlingswerk überzeugt mit seinem eigenwillig-skurrilen Humor und einem erstaunlich reifen Talent für eindrucksvolle, länger nachhallende Bilder. Dieser vom World Cinema Fund der Berlinale und dem Goethe-Institut geförderte Film hat den Spezial-Preis der Encounters-Jury verdient.

Vorschaubild: Dan Stevens und Sandra Hüller in „Ich bin dein Mensch“, © Christine Fenzl

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