Lärm. Blindes Sehen. Blinde Sehen

Ein besonderes Händchen hat Karin Beier, Intendantin des Schauspielhaus Hamburg, für spektakuläre Uraufführungen. Die aktuelle, vom Corona-Lockdown pulverisierte Spielzeit eröffnete sie mit einem großen Coup: genau zum 9/11-Jahrestag brachte sie „Reich des Todes“, das erste Theaterstück von Rainald Goetz nach knapp zwei Jahrzehnten, in einem vierstündigen Trip auf die Bühne, der digital sowohl zum Theatertreffen als auch zum Mülheimer Stücke-Festival eingeladen wurde. Auf den letzten Metern legt sie einen weiteren Coup nach: Elfriede Jelinek, eine ungleich umtriebigere Autorin und Schnellschreiberin, hat sich nach Donald Trump (in „Am Königsweg“) und der Ibiza-Affäre (in „Schwarzwasser“) diesmal die Diskurs-Hölle der Corona-Querdenker vorgenommen.

Die Uraufführung „Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!“ beginnt eindrucksvoll. Zwanzig Minuten lang bleibt der Saal dunkel, das Publikum wird von einer immersiven Sprach-Partitur von allen Seiten beschallt. Die markanten Stimmen von Josefine Israel und Eva Mattes schälen sich aus dem Konzert immer wieder heraus, sie tragen Ausschnitte der ersten Seiten des Jelinek-Texts vor. In ihre Collage hat Beier eine spannende Auswahl von Talkshow- und Politikersprech-Schnipsel der vergangenen anderthalb Jahre eingebaut: die Anordnung der sich gegenseitig kommentierenden O-Töne von Angela Merkel, Winfried Kretschmann, Christian Drosten, Jens Spahn, Viola Priesemann und manch anderen mischt sich mit den Jelinek-Fragmenten zu einer vielschichtigen Annäherung an das Thema des Abends. Dieser Einstieg ist aus meiner Sicht ein Highlight der aktuellen Wiedereröffnungs-Premieren.

Leider hält der dreistündige Abend dieses Niveau nicht durch. Das um prominente, regelmäßige Gäste wie Eva Mattes verstärkte Stamm-Personal des Schauspielhauses bietet eine unterhaltsame Tour durch die Corona-Zeit: von Ischgl über Tönnies bis zur Debatte um das Impfen bilden Jelineks Vorlage und Beiers Inszenierung viele wohlbekannte Motive aus unserem Corona-Alltag der Jahre 2020/21 ab.

Eva Mattes in der Schlachtfabrik

Szene reiht sich an Szene, mal solide gebaut, mal pointiert zugespitzt, doch insgesamt wirkt der Abend zu beliebig. Beier versäumte es, Schneisen durch den assoziativen Textflächen-Steinbruch von Jelinek zu schlagen und die interessantesten Perlen zum Funkeln zu bringen, von denen diese Corona-Abrechnung einige zu bieten hätte. Für eine Einladung zum Theatertreffen 2022 reichte es deshalb im Gegensatz zu „Am Königsweg“ und „Reich des Todes“ diesmal nicht, aber „Lärm. Blindes Sehen“ darf natürlich in Mülheim beim Dramatikpreis 2022, dem wichtigsten Festival für Uraufführungen, nicht fehlen.

Zur Hochform läuft Jelinek vor allem auf, wenn sie mit den kruden Verschwörungstheorien und den Selbstwidersprüchen der Querdenker abrechnen darf. Es ist ein Lesegenuss, wenn sich der typische, vor sich hinkalauernde Jelinek-Gedankenstrom an den Narrativen der Querdenker abarbeitet und ihre Widersprüchlichkeit aufzeigt. Natürlich greift Beier diese Themen auch auf, aber wenn sie die von Jelinek erwähnte Familie Rothschild im Stil von „Stürmer“-Karikaturen über die Bühne huschen lässt, ist das doch reichlich platt. Stattdessen konzentrierte sich Beier vor allem auf den Odyssee-Strang aus dem Jelinek-Text und lässt Eva Mattes als Zauberin Kirke ihre vier männlichen Mitspieler Jan-Peter Kampwirth, Lars Rudolph, Maximilian Scheidt und Ernst Stötzner als lächerliche Gestalten in Unterhosen herumkommandieren. Wenig subtil sind auch die Fleischfabrik-Szenen: in überdimensionalen Videos im Stil einer Undercover-Recherche werden die Missstände dieses Wirtschaftszweigs überdeutlich vorgeführt und damit die entsprechenden, subtileren Jelinek-Passsagen bebildert.

Maximilian Scheidt, Lars Rudolph, Jan-Peter Kampwirth, Ernst Stötzner

Nachvollziehbar, aber schade ist, dass Beier eine wesentliche Figur des ersten Drittels des Jelinek-Texts fast komplett unterschlägt. Die österreichische Nobelpreisträgerin arbeitet sich an Sebastian Kurz, dem „jungen Kanzler“ und seinen „türkisen Anhängern“ ab. In der Hamburger Inszenierung taucht der zuletzt so in die Defensive geratene „Super-Basti“ nur mit einigen Audio-Schnipseln in der oben erwähnten Eröffnung am Rande auf. Spannend wird es sein, ob sich Frank Castorf in seiner für September am Wiener Burgtheater angekündigten Jelinek-Inszenierung auf diesen Erzählstrang stürzt oder ob er sich lieber von seiner Faszination für russische Anarchisten und französische Theoretiker auf abgelegenere Felder wegtragen lässt.

Bemerkenswert an dieser Hamburger Inszenierung war, dass das Hygienekonzept noch ausgefeilter und aufwändiger ist, als ich dies von den Berliner Häusern gewohnt bin. Ganze Heerscharen von Mitarbeiter*innen kontrollieren an mehreren Stationen Impfstatus, Schnelltests und auch die Luca App, die trotz datenschutzrechtlicher Mängel in Hamburg obligatorisch ist. Angesichts dieses hohen Aufwands und der großen Sorgfalt ist es dann umso erstaunlicher, wie es passieren konnte, dass ich einen Sitznachbarn erwischte, der mit beeindruckender Verve und Ausdauer eine enorme Ladung in seine sicherlich komplett durchfeuchtete Maske hustete, schnaubte und rotzte, während seine Partnerin dies stoisch ignorierte.

Bilder: Matthias Horn

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