August Strindbergs „Fräulein Julie“ gehört zu den klassischen Werken des späten 19. Jahrhunderts, die mit ihrer Frauen-Verachtung und ihrem auch ansonsten zweifelhaften Menschenbild heute nur noch mit großem Unbehagen spielbar sind. Das angestaubte Stück schafft es dennoch überraschend oft auf die Spielpläne, zuletzt Ende Mai am Wiener Akademietheater. Meist sind die Begegnungen mit dem skandinavischen Fräulein aber so farblos-matt und unerfreulich wie die Schaubühnen-Inszenierung von Katie Mitchell aus dem Jahr 2010.
Eine andere Herangehensweise haben sich deshalb Timofej Kuljabin, der als künstlerischer Leiter des „Krasnyi Fackel“ („Rote Fackel“) Theater Nowosibirsk und seiner durch Europa tourenden, wortlosen „Drei Schwestern“-Version bekannt wurde, und sein Dramaturg Roman Dolzhanskij vorgenommen. Sie überschreiben den Klassiker, verlegen ihn in die Gegenwart und erweitern das Dreieck um eine vierte Figur.
Das „Fräulein Julie“ (Linn Reusse) ist in dieser Fassung frei nach Strindberg ein narzisstisches, verwöhntes Instagram-Girlie, das von Beruf Tochter ist und ihre Launen am Personal auslässt. Der Fahrer Jean (Felix Goeser) ist nicht nur Opfer ihrer sadomasochistischen Psycho- und Sexspielchen, sondern wird aus der Kommandozentrale im ersten Stock gelenkt. Wie Ulrich Mühe im Stasi-Drama „Das Leben der Anderen“ hört Thomas (Božidar Kocevski) dort alles mit, greift aber darüber hinaus ganz unmittelbar in das Geschehen ein: er lenkt Jean als seine Marionette und spricht ihm minutiös alle Antworten im verbalen Ping-Pong mit Julie vor. Dieser Thomas ist der Ex des Fräulein Julie und ist nach einem merkwürdigen Sex-Video-Leak auf Rachefeldzug: im Original wird er nur kurz erwähnt, hier wird er zur dritten Hauptfigur und drängt Christine (Franziska Machens), die Verlobte von Jean, an den Rand.
Der knapp 90minütige Abend bezieht seine Spannung aus der Zerrissenheit des Jean, wie weit er den eingeflüsterten Befehlen von Thomas und den Kommandos seiner Junior-Chefin Julie folgen muss und wie viel Eigenständigkeit er sich erlauben darf. Immer wieder droht Thomas die Kontrolle über das Geschehen in der verqualmten Designer-Küche zu verlieren, das er über eine hinter dem Porzellan versteckte Kamera live verfolgt. Technisch ist dieses Edel-Boulevard-Kammerspiel glänzend umgesetzt. Es ist auch ein Vergnügen, den vier Schauspieler*innen aus dem DT-Ensemble bei ihrem Schlagabtausch zuzusehen.
Vor allem Linn Reusse steigert sich mehrfach in exzentrische und hysterische Ausbrüche, die dem unterhaltsamen Abend den nötigen Drive geben. Erfreulich ist auch, dass Timofej Kuljabin bei seiner Aktualisierung eines alten Stoffs der Versuchung widerstand, ihn so krampfhaft auf einen pseudo-hippen Jargon zu trimmen, wie ihn Simon Stone seinem Publikum in seinen Soap-Überschreibungen wie zuletzt „Yerma“ an der Schaubühne serviert.
Die „Fräulein Julie“-Version des russischen Gast-Regisseurs Kuljabin ist amüsantes Unterhaltungstheater, das 90 Minuten im Flug vergehen lässt, aber auch nicht wesentlich länger dauern dürfte. Es bleibt allerdings ein Rätsel, was den Regisseur und das Deutsche Theater Berlin dazu brachte, diesen alten Strindberg-Stoff überhaupt noch mal auszugraben: sie fassen ihn zwar mit spitzen Fingern an und machen daraus hübsch anzusehenden Boulevard, der niemandem weh tut und sich gut konsumieren lässt. Die Frage nach den Motiven bleibt aber auch nach der Lektüre des knappen Programm-Zettels offen, in dem Kuljabin vor allem nach den Handlungsspielräumen für Künstler in Putins Autokratie gefragt wird.
Dass es etwas unglücklich ist, die Spielzeit an einem der wichtigsten Häuser im deutschsprachigen Raum ausgerechnet mit einer Inszenierung zu eröffnen, die schon im März 2020 geprobt war und zwei Mal wegen kurz vor der Premiere verhängter Lockdowns verschoben werden musste, hat Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung treffend bemerkt. Der Abend ist tatsächlich nicht mehr als „gehobenes Geplänkel“ und es ist wohl den Zwängen des Theater-Betriebs geschuldet, der nach dem Schock der Pandemie-Zwangspause in allzu vertrauten Bahnen, als ob nichts gewesen wäre, weiterläuft, dass diese ältere Inszenierung nun aus dem Schrank geholt und auf diesen repräsentativen Eröffnungs-Termin gesetzt wurde.
Bilder: Arno Declair