Was für ein Auftakt! Was für ein Spektakel! Wer sich heute Abend auf den Weg zur Volksbühne am Rosa Luxemburg-Platz aufmachte, um mit dem Rest der Berliner Theater-Blase bei der feierlichen Eröffnung von René Polleschs Intendanz dabei zu sein, musste einiges an Geistesgegenwart aufbringen. Mit quietschenden Reifen und Blaulicht schossen die Polizeiwagen um die Ecke in einer wilden Verfolgungsjagd auf sogenannte Querdenker, die die Party-Stimmung rund um das Zirkuszelt auf dem Theater-Vorplatz störten.
Wie kann man solch ein Live-Spektakel toppen? Kathrin Angerer schaltet nach dieser ungeplanten Action-Sequenz erst mal demonstrativ einige Gänge zurück und gönnt sich zu „Without me“ von Eminem ein Fußbad. Im Plauderton spielt sie sich dabei mit Martin Wuttke die Bälle zu. Die beiden Theater-Stars sind wichtige Pfeiler in Polleschs künstlerischem Team. Er betonte in zahlreichen Interviews immer wieder, dass sie mehr als glamouröse Ensemble-Mitglieder sind, bei seinem bekannt inklusiven Arbeitsstil haben sie eher die Rolle von Ko-Intendant*innen. In lockerem Prolog-Geplänkel führen sie mit Kartentricks und Akrobatik in die Welt des Zirkus als Leitmotiv dieser Eröffnungswoche ein.
Angerer und Wuttke tänzeln auch in den folgenden 90 Minuten spielerisch durch den Abend und machen es sich auf Camping-Stühlen gemütlich. Sie machen einfach, was sie immer machen: verbales Ping-Pong, etwas Slapstick und munter durcheinander gewirbelte Diskursschnipsel, die diesmal besonders häufig auf den russischen Dichter Leo Tolstoi rekurrieren. Diesen unverkennbaren Pollesch/Angerer/Wuttke-Sound hat man so schon zig-mal gehört. Die Fans jubeln dennoch dankbar, vor allem aus einem Grund: Diese Premiere ist die Rückkehr und Wieder-In-Besitz-Nahme des Stammhauses am Rosa-Luxemburg-Platz, aus dem Pollesch und Co. 2017 von Tim Renner und Chris Dercon vertrieben wurden.
Zwei Side-Kicks haben Angerer und Wuttke an diesem Abend: Margarita Breitkreiz darf immer wieder ebenso hysterisch wie erfolglos mahnen, dass niemand gegen das Rauchverbot verstößt. Auch sie ist ein vertrautes Gesicht aus der Castorf-Ära, war zuletzt in seiner „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“-Inszenierung am Berliner Ensemble und einer Open-Air-Performance auf dem ehemaligen Auto-Scooter vor dem Haus der Statistik zu sehen, wirkt in ihrer Nebenrolle diesmal allerdings unterfordert. Als zweiter Side-Kick wird Susanne Bredehöft vor allem dafür gebraucht, den Rest der Truppe fassungslos anzustarren: für diesen Part ist ansonsten meist Franz Beil zuständig, allerdings gerne garniert mit wahnwitzigen Monologen, die demonstrativ nichts mit dem Rest des Abends zu tun haben.
Einen dritten Hauptdarsteller darf man dann aber doch nicht verschweigen: der Vorhang, der schon im gewohnt langen und nebulösen Stück-Titel hervorgehoben wird, bauscht sich äußerst ästhetisch. Dieser Vorhang ist neben dem klapprigen Skelett, das auf Martin Wuttkes Rücken baumelt, der zweite Hingucker auf Leonard Neumanns ansonsten fast leerer Bühne. Oft wird der Vorhang in die kleinen Theater-Betriebs-Gags rund um Brecht und den Lappen, der hochgehen muss, spielerisch einbezogen. Am schönsten ist es aber, wenn sich das Quartett kurz zurückzieht und der Vorhang ganz allein in sanften Bewegungen über die Bühne gleitet.
Bilder: Christian Thiel