Radar Ost 2021

Ganz im Zeichen der Solidarität mit dem politischen Widerstand gegen autokratische Strukturen und Repression in Russland und Belarus stand die 2021er Ausgabe des Festivals „Radar Ost“ am Deutschen Theater Berlin. An allen vier Tagen gehört die große Bühne des Hauses Kirill Serebrennikow, der Moskau nach einem dubiosen Prozess immer noch nicht verlassen darf, aber unmittelbar vor dem ersten Corona-Lockdown aus der Ferne noch die Proben der Decamerone“-Koproduktion zwischen DT Berlin und Gogol Center Moskau abschließen konnte. Diese Inszenierung wurde bisher nur wenige Male gezeigt und zur Festival-Eröffnung wiederaufgenommen.

„Art(ists) at Risk“ lautet auch das Motto des Panels in den DT-Kammerspielen am Abschlusstag, bei dem u.a. Anna Shalashova, Kirill Serebrennikows Persönliche Mitarbeiterin, und die belarussiche Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch sprechen werden.

Vier Tage lang wurde auch auf den kleineren Bühnen des Hauses und sogar im Verwalterhaus des Friedhofs an der Prenzlauer Allee ein volles Programm aus Gastspielen und Koproduktionen geboten, von denen ich zwei vorstellen möchte.

Das Yanka Kupała in Minsk, das älteste Theater von Belarus, war mitten in den Vorbereitungen für das 100jährige Jubiläum das Hauses, als sich das Ensemble im August 2020 mit den Protesten gegen den Wahlbetrug solidarisierte. Schauspieler*innen gingen in den Untergrund und gründeten die unabhängige Theatergruppe Kupalaŭcy, die ihre Projekte bisher nur auf YouTube streamen kann.

Mit Unterstützung des Goethe Instituts gelang es, dass die „Woyzeck“-Inszenierung von Raman Padaliaka bei dem Gastspiel in den DT-Kammerspielen erstmals auch auf einer Bühne gezeigt werden konnte. Der einstündige Abend voller schneller Schnitte, kurzer Szenen und treibender Beats funktioniert sowohl im Netz wie vor analogem Publikum. Der fragmentarische Charakter des kanonischen Büchner-Texts wird in dieser Inszenierung, die auf Belarussisch mit deutschen Übertiteln gezeigt wurde, sehr betont.

In der Box gab es anschließend eine spielerische Hommage an die Protest-Bewegung in Belarus. Worauf Ksenia Ravvinas „In A Real Tragedy, It Is Not The Heroine Who Dies; It Is The Chorus“ hinaus will, ist zunächst unklar: im Halbdunkel kommen raunende Stimmen aus dem Off, ein paar Kalendersprüche werden an die Wand projiziert und Yang Ge, aus China stammendes Ensemble-Mitglied des Gogol Centers, die den Kontakt zwischen Serebrennikow und Reng Han herstellte, plaudert in einigen Videos, die wir via QR-Code und mit Kopfhörern auf unseren Handys abrufen.

Recht ziellos wirkt dies lange Zeit. Der erste starke Moment ist, als Ge von ihrer ersten Begegnung mit Serebrennikow schwärmt und ihre Sicht auf die haarsträubenden Vorwürfe gegen den Regisseur schildert, dass es die „Sommernachtstraum“-Inszenierung, in der sie mitspielte, nie gegeben habe, sondern das Geld unterschlagen worden sei.

Während Ge nur virtuell zu uns spricht und einige Meter weiter live im „Decamerone“-Stück auf der großen Bühne steht, erhebt sich im zweiten Teil die chilenischstämmige Leicy Valenzuela, die in den vergangenen Jahren in einigen Projekten der Berliner Freien Szene arbeitete, aus der ersten Reihe und schildert nach einer anekdotischen Einführung in ihren Lebenslauf, wie sie aus der Ferne die politischen Proteste in Belarus im Sommer 2020 erlebte.

Damit war nicht nur die oft recht assoziative und fahrige Performance „In a Real Tragedy“ bei ihrem thematischen Kern angekommen, sondern leuchtete auch in der abgedunkelten Box wieder der eingangs erwähnte rote Faden des Festivals auf: die Solidarität mit den mutigen Theaterleuten und Demonstranten im Osten Europas.

Um einen seit Jahren schwelenden, im Rest Europas aber verdrängten Krieg ging es in „Bad Roads“ von Natalia Vorozhbyt vom Left Bank Theatre aus Kiew. 2014 reiste die ukrainische Dramatikerin in den Donbass, wo Separatisten die Volksrepubliken Donezk und Luhansk ausriefen.

Als Auftragswerk für das Royal Court Theatre verfasste Vorozhbyt sechs Szenen, die plastisch von den Schrecken des Krieges erzählen: von Vergewaltigungen, Entführungen, Demütigungen. Im Jahr 2019 inszenierte Tamara Trunova das Stück in Kiew als düsteren Zweistünder. Grausamkeit fügt sich an Grausamkeit. Das Szenenbild von Yurii Larionov ist ziemlich plakativ: die Spieler*innen rütteln an einer Gitterwand oder rutschen bäuchlings über eine abschüssige Rampe, bevor sie gezwungen werden, aus einem Napf zu trinken.

Wenige Monate nach dem Gastspiel ist das Schicksal der Ukraine nach Putins Angriff, der sich diesmal auf das gesamte Land und besonders auch auf die Hauptstadt Kiew erstreckt, auf den Titelseiten der internationalen Presse angekommen. Aus aktuellem Anlass streamte Nachtkritik deshalb zwei Tage lang im Frühjahr eine Aufzeichnung aus dem Kiewer Theater. Nach der „Bad Roads“-Film-Version, die beim FIND Festival der Schaubühne im April 2022 kurzfristig ins Programm genommen wurde, folgte auch die Gastspiel-Einladung zum „Radikal jung!“-Festival im Sommer 2022 ans Münchner Volkstheater.

Dank an die Festival-Kuratorin Birgit Lengers und das DT Berlin, die seit Jahren mit langem Atem und jenseits tagesaktueller Konjunkturen nach Osteuropa blicken, interessante Inszenierungen einladen und solidarische Netzwerke knüpfen.

Bild: Screenshot aus der Onlinepremiere „Woyzeck“, Theatergruppe Kupalaŭcy

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert