Qui a tué mon père

„Regarde, papa!“, rief der kleine Eddy zunehmend verzweifelt und vergeblich. Der Junge war so stolz auf die Performance, die er zum „Barbie Girl“-Hit von Aqua einstudiert hat und die er den Gästen der Familie präsentieren wollte. Doch der Vater wandte sich ab und ging nach draußen, da sich diese kleine Showeinlage nicht mit seinem toxischen, engstirnigen Bild von Männlichkeit vertrug.

In seinem minimalistischen, dennoch sehr berührenden Solo-Abend erzählt Èdouard Louis von seinem zerrütteten Verhältnis zu seinem Vater. Von seinem kleinen Schreibtisch, der zugleich als DJ-Pult, Ort zum kurzen Innehalten und Requisiten-Ständer dient, blickt Édouard Louis immer wieder nach links zu dem leeren Sessel, in dem nur die Wolldecke an den abwesenden Vater erinnert.

Der autobiographische Essay „Qui a tué mon père/Wer hat meinen Vater umgebracht?“ wurde in den vergangenen Jahren schon mehrfach für die Bühne adaptiert, zuletzt als zweiter Teil des „Eddy-Projekts“ in der Wabe im Prenzlauer Berg. Im vergangenen Jahr erarbeitete der französische Autor gemeinsam mit Schaubühnen-Intendant Thomas Ostermeier eine Bühnenfassung, die bereits zwischen den beiden Corona-Lockdowns in Paris Premiere hatte und als Highlight des zweiten FIND-Festival-Wochenendes auch erstmals in Berlin zu sehen war.

In seinem Pokémon-Shirt wirkt Louis schlaksig und zerbrechlich, mit geradezu kindlicher Freude stürzt er sich in die Tanzeinlagen der Popsongs seiner Kindheit. In kurzen Augenblicken sind bisher ungekannte Facetten des meist so ernst auftretenden Schriftsteller-Jungstars zu erahnen: ein ausgelassener Èdouard Louis, wie ihn seine engsten Freunde erleben und wie ihn ein Porträt im Wiener „Standard“ vor kurzem beschrieb.

Vor Schwarz-Weiß-Provinz-Tristesse-Videos von Sébastien Dupouey, die an Ostermeiers „Rückkehr nach Reims“-Inszenierung erinnern, erinnert sich Louis an schmerzende Erlebnisse und stellt oft verwunderte Fragen, was seinen Vater nur so deformiert und verhärtet hat. Eine große Sehnsucht ist in seinen Worten spürbar.

Am Ende wird der Text zur Abrechnung mit vier französischen Präsidenten und ihrer Sozialpolitik: Mit Zorro-Maske, Superman-Cape und abgefeuerten Knallerbsen zählt Louis scheinbar harmlose Gesetzesänderungen auf, die für das Leben und die Gesundheit seines Vaters gravierende Einschnitte bedeuteren. In dem sonst so stillen, nachddenklichen Abend wirkt diese Schluss-Szene etwas albern und deplatziert, wie ein Nachklapp. Besser war dies in der Münchner Inszenierung von Philipp Arnold gelöst, in der Jonathan Hutter seine Wut in einer Tirade herausbrüllt: schnörkellos und authentisch, dieser Ton hätte auch hier besser zum Rest des Abends gepasst.

Der andere prominente Gast der zweiten Festival-Hälfte war die katalanische Radikal-Performerin Angélica Liddell, die eine alte Bekannte und treue Begleiterin dieser jährlichen Schau progressiver, spannender internationaler Theaterproduktionen.

Schaubühnen-Intendant Thomas Ostermeier widmete ihr diesmal sogar einen Schwerpunkt: sie brachte zum einen ihre Neu-Produktion „Liebestrunk“ aus Avignon mit, die ich krankheitsbedingt nicht sehen konnte. Wie zu hören und zu lesen war, ritzte sie sich gleich zu Beginn gewohnt provokativ mit einer Rasierklinge, so dass erste Zuschauer*innen kollabierten. Sie machte dennoch ungerührt weiter. Außerdem wurde das bereits für März 2020 geplante Gastspiel von „The Scarlett Letter“ nachgeholt: Mit ihrer Mischung aus sakralem Ritual, Drill, Muskel-Posing und langen Suadas voller Selbst- und Frauenhass lotete Liddell wieder einmal Geschmacksgrenzen aus. Das Berliner Publikum ließ die Frontalangriffe auf Feminismus und #metoo erstaunlich achselzuckend über sich ergehen. Auch der ungewöhnliche Mix des Sommer-Hits „Dragostea Din Tei“ mit Michel Foucaults Philosophie konnte zwar nicht den Saal, aber immerhin die Twitter-Theater-Blase aus der Reserve locken. Der Auftritt von Angélica Liddell ließ vor allem Ratlosigkeit und den Eindruck zurück, dass sich eine Künstlerin in ihr eigenes Paralleluniversum eingesponnen und verrannt hat.

Im Schatten der Promis und Festival-Lieblinge stand der in Kanada geborene, in London lebende Spoken Word Performer Chris Brett Bailey mit seinem Programm „This is how we die“: an einem schmalen Tisch sitzend brüllte er seine erste Nummer wie auf Speed in sein Mikro. Sein Markenzeichen sind sein skurriler Humor, in dem er Alltagssituationen wie einen Familienbesuch oder eine Fahrt zur Tankstelle, zu schrägen Mystery-Trips ausarten lässt, und seine Vorliebe für häufig eingestreuten Begriffe aus dem Sex-Leben. Angekündigt war Brett Bailey als Erbe der „Beat“-Literaten der 1960er, tatsächlich findet er sich irgendwo zwischen Poetry Slam und Comedy wieder. Missglückt war sein Finale: nachdem er seinen Vorlese-Tisch verlassen hat, malträtiert er das Publikum mit dem Lärm eines Düsenjets. Das wirkt ähnlich unmotiviert wie manche Wendung in seinen kurzen Text-Miniaturen zuvor.

Bilder: Jean-Louis Fernandez

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