Das Dresdner „Fast Forward Festival“ ist eine der ersten Adressen für junge Regiearbeiten aus unseren europäischen Nachbarländern. Angesichts steigender Inzidenzen fand es im November hybrid statt: live vor Ort im Kleinen Haus des Dresdner Staatsschauspiels und per Stream auf den heimischen Tablets oder Laptops. Nun, im Dezember 2021, ist Sachsen bereits mitten im dritten Lockdown, während der Rest der Republik, mit weniger Querdenker*innen und geringeren Inzidenzen gesegnet, noch bangt, wie lange der Spielbetrieb wohl noch weiter geht. Dankenswerterweise streamt Nachtkritik auf seiner nagelneuen Plattform eine Woche lang noch mal das komplette Festival-Programm.
Neben der HIV-Collage „Rise like a virus“ vom Salzburger Mozarteum und „R-Faktor – Das Unfassbare“ von der Münchner Otto Falckenberg-Schule sind vor allem die beiden Eröffnungsproduktionen interessant: aus unserem Nachbarland Polen kommt „Secre“ (auf Deutsch: „Herz“), eine Überschreibung der Novelle „Herz der Finsternis“, die mit enormen Textmassen und viel Video-Einsatz anspielungsreich zwischen Marlon Brando in der berühmten Kino-Adaption „Apocalypse Now“, Debatten über Postkolonialismus und kulturelle Appropriation sowie dem Streit um die strengen polnischen Abtreibungsgesetze dahinschlängelt.
Wiktor Bagińskis Arbeit, die vom TR Warszawa produziert wurde, ist hoch ambitioniert, ächzt allerdings unter einer Überfrachtung. Der Inszenierung ist deutlich anzumerken, dass der Regisseur und sein Team möglichst viele Themen ansprechen wollten, die ihnen auf den Nägeln brannten. Zwischen all den Textmassen und Problembergen kommt der Spielfluss zu kurz.
Ebenfalls aus Osteuropa stammt der kurze Text „Fuck you, Eu.ro.Pa!“ von Nicoleta Esinencu. Die Autorin schrieb diesen Text schon 2003, im Jahr der EU-Osterweiterung, während eines Stipendienaufenthalts in der Akademie Solitude Stuttgart. Der Text polarisiert, wurde preisgekrönt, aber in ihrer Heimat, der postsowjetischen Republik Moldau, verboten. „Fuck you, Eu.rp.Pa!“ wurde schon mehrfach nachgespielt, zuletzt von Marina Frenk im Rahmen des Gorki Herbstsalons 2019 auf der dortigen Studio-Bühne. In Dresden war eine französische, digitale Fassung zu Gast: Pauline Acquart rechnet in dem halbstündigen Monolog, den Délit B.-Malthet für das Maillon, Théâtre de Strasbourg eingerichtet hat, mit ihrem Vater ab. Vor dem Spiegel eines Badezimmers zählt sie eine lange Liste von Krankheiten auf und schlägt immer wieder den Bogen zur Situation eines saturierten Westeuropas, einer Konsumgesellschaft, deren Lebensstil nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems im Turbotempo auch in den Transformationsstaaten Einzug hielt.
Vorschaubild: Monika Stolarska