FAUSTGretchen

Programmatisch ist der „Faust“ im Titel von Bert Zanders theatraler Installation, die er für das Staatstheater Kassel entwickelte, durchgestrichen. Für das Gretchen, das Emilia Reichenbach verkörpert, ist ihr Faust nur noch eine Stimme aus dem Off. Während die junge Schauspielerin wie auf einem Laufsteg zwischen Video-Leinwänden flaniert, werden die Stimmen von Will Quadflieg und Gustaf Gründgens aus der berühmtesten „Faust“-Theater-Verfilmung eingespielt, die Generationen von Schulklassen aus dem Unterricht kennen.

Doch Goethes Klassiker ist hier nur die Hintergrund-Folie: Kasseler Bürger*innen fassen die Handlung in vielen weiteren Einspielern in ihren eigenen Worten zusammen. Vor allem in der ersten Hälfte der 85 Minuten dominiert die ironisch-dekonstruierende Nacherzählung.

Erst im Lauf der Zeit gewinnt die Inszenierung an Dringlichkeit, fokussiert sich auf die Emanzipation des Gretchens zur Margarethe. Eine Stärke des kurzen Abends ist, dass er von schönen Popsongs durchzogen ist, die Melancholie, Trotz und Aufbegehren der jungen Frau spiegeln, die vom Objekt zum Subjekt reift. Die Zeitebenen verschwimmen: Goethes Gretchen-Figur, der reale Fall der Susanne Margarethe Brandt, das er aufgriff, und die Vergewaltigung einer Studentin auf einer Party werden zu einer Textfläche collagiert. Auch das Spiel mit Dunkelheit und Licht, das schon Bert Zanders „Innen.Nacht“ prägte, wird im Verlauf der Arbeit präziser. Dieser Theaterfilm, den er während des Lockdowns im März 2021 am Theater Oberhausen entwickelte, ist insgesamt dramaturgisch überzeugender als die Kasseler Faust/Gretchen-Bearbeitung und schaffte es als eine der ganz wenigen originär im Netz entwickelten Arbeiten in die Jury-Diskussion zum Theatertreffen 2022.

Dort im Netz war heute auch ein Mitschnitt der Kasseler Inszenierung bei der Woche junger Schauspielerinnen und Schauspieler in Bensheim zu sehen.

Bild: © Isabel Machado Rios

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