Lange Nacht der Autor*innen

Den Abschluss der Autor:innentheatertage bildet traditionell die „Lange Nacht“: eine Jury wählte aus knapp 200 Einsendungen die drei Texte aus, die dem Publikum in Uraufführungs-Inszenierungen präsentiert werden sollen.

Zum 25. Jubiläum des Festivals wurde eine starke Auswahl geboten, die Inszenierungen blieben aber oft hinter der sprachlichen Kraft des Textes zurück.

In der stickigen Box des Deutschen Theaters Berlin bekommt man an diesem tropisch heißen Sommerwochenende schon beim Sitzen und Zuschauen kaum Luft. Das vierköpfige Ensemble springt und tobt durch „Das Augenlid ist ein Muskel“ des Schweizers Alexander Stutz: Hauptfigur Aaron (Paul Grill) verarbeitet Narben und Traumata. Er wurde jahrelang jeden Sonntag von seinem zehn Jahre älteren Cousin Jan (meist von Niklas Wetzel gespielt) missbraucht.

Niklas Wetzel und Paul Grill in „Das Augenlid ist ein Muskel“, Copyright Arno Declair

Stutz gelingt ein sensibler Text, der um Worte ringt: der Autor lässt den Kloß im Hals oder die Matratze die Worte herauspressen, die der Hauptfigur lange fehlen. In der Inszenierung beeindrucken vor allem die beiden Hauptdarsteller Grill und Wetzel aus dem DT-Ensemble, aber auch die beiden Gäste Hilke Altefrohne und Andreas Leupold, die man beide lange nicht mehr auf Berliner Bühnen gesehen hat, haben Anerkennung verdient. Sie gehörten dem Gorki-Ensemble während der Intendanz von Armin Petras an. Als Shermin Langhoff im Herbst 2013 übernahm, zog es Altefrohne zu Barbara Frey nach Zürich, seit 2018 arbeitet sie frei, Leupold folgte Petras nach Stuttgart.

Alte Petras-Schule ist auch die Regisseurin Jorinde Dröse, die vor einem Jahrzehnt oft am Gorki Theater inszenierte, um die es seitdem aber sehr still geworden ist. Sie inszeniert den nachdenklichen Text sehr temporeich mit schweißtreibenden Tanz-Einlagen zu Modern Talking, der Lieblingsmusik von Aarons Mutter. Vor allem in der ersten Hälfte verzettelt sich Dröse sehr: der Abend droht sich mit Comic Relief zu verläppern, Slapstick-Nummern reihen sich unmotiviert aneinander und es wird nicht klar, worauf die Inszenierung hinaus will, bis Grill und Wetzel das Ruder in die Hand nehmen und den Abend erden. Bei der furiosen Schluss-Choreographie ist dann wieder das ganze Team an Bord.

Zu einfach macht es sich auch Christina Tscharyiski mit ihrer Inszenierung von Paula Thieleckes „Judith Shakespeare – Rape and Revenge“: die österreichische Regisseurin, die bereits mehrfach auf der kleinen Bühne des Berliner Ensembles inszenierte, liefert anderthalb Stunden Frontal-Unterricht in aktuellen feministischen Diskursen. Die Grazer Produktion lässt die fiktive Schwester von Judith Shakespeare (Maximilane Haß) auf einen siebenköpfigen Chor treffen: mal verkörpert dieser Chor den berühmten Bruder, der hier als überschätzter Liebling seiner Mentoren gezeichnet wird, mal die Theater-Pförtnerin Röschen*, mit der Judith eine lesbische Affäre eingeht, und schließlich den Intendanten Juri Stein, der als Karikatur eines „alten weißen Mannes“ gezeichnet wird, der sich im Glanz seiner Patriarchen-Macht sonnt.

Clemens Maria Riegler, Miriam Fontaine, Sissi Noé, Beatrix Doderer, Rudi Widerhofer, Mathias Lodd, Katrija Lehmann als Chor. Bild: Lex Karrelly

Eindimensional, stellenweise witzig und oft zu platt ist diese Inszenierung, die vor allem von den jungen Zuschauerinnen als Empowerment bejubelt wird, aber zu selten über Schlagworte und Klischees aus den aktuellen Diskursen in Theaterblase und Gesellschaft hinauskommt und ihre Botschaft oft in ordinärer In-your-Face-Sprache rausbrüllt. Nach 95 Minuten fragt man sich, ob der Text nur wegen seiner gutgemeinten feministischen Geradlinigkeit eingeladen wurde. Lea Goebel, Dramaturgin am Schauspiel Köln, verteidigte den Text, der wesentlich vielschichtiger sei als die Inszenierung.

Die Figur Judith Shakespeare ist natürlich keine Erfindung dieser Langen Nacht-Produktion, sondern stammt aus dem Essay „A Room of one´s own“ (1929) von Virginia Woolf. Die interessantere Annäherung an die Figur gelang den Performerinnen von Swoosh Lieu in ihrem mit Birte Schnöink am Mousonturm produzierten Theaterfilm „A Room of our own“ im Lockdown 2021.

Statt „Fischer Fritz“ von Raphaela Bardutzky in der Regie des Leipziger Intendanten Enrico Lübbe habe ich die szenische Lesung von Ausschnitten des vierten Texts besucht: „Wonderwomb“ von Amir Gudarzi erhielt von der ATT-Jury eine lobende Erwähnung, gewann mittlerweile den Kleist-Förderpreis und wird in der kommenden Spielzeit in Marburg uraufgeführt. Das Trio Maren Eggert, Ex-Ensemble-Mitglied Camill Jammal und Božidar Kocevski präsentiert in 45 Minuten einige Szenen der Textes, der an der Netflix-Ästhetik geschult ist: in Parallelsträngen verhandelt Gudarzi die Krisen-Themen des Nahen und Mittleren Ostens, die großen Themen der Weltpolitik wie die Gier nach dem Öl und den von Donald Trump, der konsequent nur als „orangengesichtiger Präsident“ bezeichnet wird, befohlenen Drohnenangriff auf den iranischen Revolutionsbrigaden-General Qassim Soleimani im Januar 2020.

Vorschaubild: Arno Declair

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