Jurrungu Ngan-ga/Straight Talk

Mit einer düsteren Anklage beginnt das Eröffnungsstück von Tanz im August. Dalisa Pigram, Rachael Swain und Patrick Dodson, die Köpfe der australischen Compagnie Marrugeku, haben einen Koloss aus Stahlrohren in die Mitte der Bühne gestellt. Sie schaffen eine beklemmende Atmosphäre, zitieren die Stereotype der Gefängnis-Filme mit Alarmtönen und Lichtwechseln. Das Ensemble zuckt und wälzt sich am Boden oder steht eingeschüchtert vor überdimensionalen Videoprojektionen. Die Übergriffe des Personals gegen die Gefangenen werden nachgestellt.

„Jurrungu Ngan-ga/Straight Talk“ bleibt jedoch nicht im Allgemeinen einer Gefängnis-Erzählung stecken, sondern wird in seiner Kritik sehr konkret: Marrugeku prangert die Zustände im Manus Regional Processing Centre an, wo von 2001 bis zu einem Urteil des Obersten Gerichtshofs von Papua Neuguinea asylsuchende Boat People (mit einer Unterbrechung zwischen 2008 und 2012) oft jahrelang interniert wurden. Das Gefängnis auf der Pazifik-Insel Manus stand nie so im Fokus der Weltöffentlichkeit wie die Zustände in Guantánamo oder Abu Ghraib, die Empörung von NGOs wie Amnesty International und Ärzte ohne Grenzen oder die Kritik des UNHCR wurden in den Medien außerhalb Australiens und der Pazifik-Region immerhin punktuell aufgegriffen. Der kurdisch-iranische Schriftsteller Behrouz Boochani erzählt in seinem Roman „No Friend But the Mountains: Writing from Manus Prison„, der 2020 auch auf Deutsch erschien, von den Übergriffen auf der Gefängnisinsel, sein Erlebnisbericht ist eine zentrale Quelle dieses Tanz-Theaterabends, der im Frühjahr 2021 im westaustralischen Broome Premiere hat und nach einem Gastspiel bei der Biennale in Venedig nun bei „Tanz im August“ und in wenigen Tagen beim Sommerfestival auf Kampnagel, das den Abend mitg Unterstützung der Körber-Stiftung auch koproduzierte, erstmals in Deutschland zu sehen ist.

Marrugeku hat es sich zum Ziel gesetzt, das Erbe der indigenen Völker zu bewahren und die Kolonialverbrechen zu thematisieren. In „Jurrungu Ngan-ga“, was auf Yawuru „Klare Ansage“ bedeutet, reden sie tatsächlich in jedem Moment Klartext. Wut und Trauer über die Übergriffe gegen Asylbewerber auf der Gefängnisinsel werden in die Traditionslinie der Entrechtung indigener Völker gestellt.

Bild: Abby Murray

Doch der Abend bleibt nicht bei der Anklage stecken. Trans-Performer*in Bhenji Rha entert die Bühne und startet ein mitreißendes Empowerment-Spektakel, das die zweite Hälfte des Abends prägt. Statt der Überwachungskameras werden glamouröse Kronleuchter von der Decke heruntergefahren, die Bühne im Haus der Berliner Festspiele wird zur Partyszene, auf der sich das Marrugeku-Ensemble zwischen Pop und Rap austobt. In Spoken Word-Einsprengseln werden weitere Namen von Opfern aufgezählt und Querverbindungen gezogen.

Mit ihrer Mischung aus Tanz, Gefängnis-Installation und politischem Aktivismus bespielen die australischen Gäste zur Eröffnung des Festivals die gesamte große Bühne und bekommen minutenlangen, begeisterten Applaus. Konzept und Anspruch von „Tanz im August“ sind es, nicht die großen, bekannten Namen der internationalen Tanzszene abzufeiern, sondern vor allem in den Nischen zu suchen, das Experimentelle, Widerständige, Übersehene zu präsentieren. Bei der präpandemischen Ausgabe 2019 schossen Virve Surtinen und ihr Team oft über das Ziel hinaus. Ist das noch Tanz?“, fragte nicht nur Nachtkritik nach einer Vielzahl kleiner Formate, bei denen keine echte Festival-Stimmung aufkam. In ihrer letzten Ausgabe geht Virve Surtinen mit dem spektakulären Auftakt einen Stück zurück auf das Publikum zu. Die große Bühne nach den beiden Corona-bedingt stark reduzierten Ausgaben 2020/2021 wieder in Besitz zu nehmen, war auch ein zentrales Thema in den Eröffnungs-Reden der nach dieser Ausgabe ausscheidenden finnischen Festival-Kuratorin und der HAU-Chefin Annemie Vanackere. Zum Auftakt ist das gelungen!

Vorschaubild: Prudence Upton

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