In die Reihe der Geburtstags-Gratulantinnen zum 30. Jubiläum der Bar jeder Vernunft reiht sich in dieser Woche auch Katharine Mehrling. Das Zelt in Wilmersdorf ist ihr Wohnzimmer: 2009 hatte sie hier ihr erstes Soloprogramm „Bonsoir Katharine“, im Dauerbrenner „Cabaret“, der alljährlich im 10 Jahre jüngeren Schwesterzelt tipi wiederaufgenommen wird, spielte sie einst die Sally Bowles, neben ihrer zweiten Heimat, der Komischen Oper von Barrie Kosky, ist sie an der Schaperstraße seit Jahren regelmäßig zu erleben.
Ihr neuer Abend, der schlicht „Au Bar“ heißt, ist vor allem eine Hommage an ihre Vorbilder des französischen Chansons: von Edith Piaf bis Charles Aznavour hat sie die berühmtesten Lieder aus diesem Genre in ihrem Repertoire.
Mehrling überzeugt aber nicht nur durch ihre tolle, stets rauchig-laszive Gesangsstimme, sondern auch als Entertainerin. Ganz unscheinbar leitet sie die Anmoderationen ein und setzt dann gekonnt ihre Pointen. In „Makrobiot“ macht sie sich über Ernährungs- und Wellness-Trends lustig und beschreibt zuvor ausführlich das Nachtleben im Schöneberger „Eldorado“ kurz vor dem Untergang der Weimarer Republik, wo heute ein Bio-Supermarkt sei. Manches ist auch einfach gut erfunden, wie Mehrlings autobiographische Reise quer durch Europa, in der sie Dialekte imitiert und parodiert, bevor sie mit „Castrop Rauxel“ das Los der Stadttheater-Musical-Darsteller*innen in der Provinz besingt.
Vom vielzitierten Publikumsschwund ist an diesem Mehrling-Abend nichts zu spüren. Im Gegenteil: das Zelt ist so eng bestuhlt, dass die Zuschauer*innen kaum noch Beinfreiheit haben. Für die Künstlerin und die nichtsubventionierte Bühne könnte es kaum besser laufen, wenn das Haus so brechend voll ist. Der Konzertgenuss für das Publikum wäre allerdings noch größer, wenn die Sitznachbarn nicht ganz so eng neben uns kleben würden.
Bild: Barbara Braun/Bar jeder Vernunft