Theater in Deutschland

Sein monumentales Werk einer Geschichte des Theaters in Deutschland konnte Günther Rühle leider nicht mehr zu Ende bringen. Nach zwei backsteinschweren Bänden ließ es seine schwindende Sehkraft nicht mehr zu, dass er den dritten Teil, der die Jahre 1967 – 1995 beschreiben sollte, abschließen konnte. Hermann Beil, einer der prägenden Dramaturgen jener Jahrzehnte, insbesondere bei Claus Peymann am Schauspielhaus Bochum und Burgtheater Wien, und Stephan Dörschel (Akademie der Künste) bearbeiteten das Fragment, so dass es in diesem Bücherherbst erscheinen konnte.

Im Saal des Deutschen Theaters Berlin stellten sie einige Auszüge aus dem Werk vor. Sehr deutlich wurde das Kompositionsprinzip des Bandes: der langjährige FAZ-Feuilletonchef bemühte sich darum, Querverbindungen zwischen parallelen Ereignissen zu ziehen und Theater-Aufführungen in ihren gesellschaftlichen Kontext einzubetten.

Leider konnte Ulrich Matthes, einer der bekanntesten Köpfe des DT-Ensembles, krankheitsbedingt nicht an der Lesung teilnehmen. Auch wenn die Pandemie in manchen Köpfen längst abgehakt ist: Kaum ein Abend vergeht derzeit ohne kurzfristige Umbesetzungen oder Absagen. Zuschauerinnen wie die Frau in der ersten Reihe, deren zentraler Beitrag es war, ihre Viren rücksichtslos und ohne den geringsten Ansatz von Nies- und Hustenetikette im Raum zu verteilen, tragen daran ihren Anteil und müssen deshalb für ihren gewaltigen Einsatz auch unbedingt gewürdigt werden.

Als Glücksfall stellte sich heraus, dass Barbara Schnitzler kurzfristig einsprang. Sie war eine der prägenden Spielerinnen im Ensemble des Deutschen Theaters Berlin zwischen 1974 und 2018, war aber schon in den letzten Jahren ihres Engagements immer seltener auf der Bühne zu sehen. Zuletzt gastierte sie als Fräulein Schneider im jährlichen Sommer-Hit „Cabaret“ des tipi am Kanzleramt.

Die Tochter der DT-Grande Dame Inge Keller und des „Schwarzer Kanal“-Propagandisten Karl-Eduard von Schnitzler las nicht nur Rühles Passagen über legendäre Benno Besson-Inszenierungen und die aufgewühlten Debatten am Haus während der Vorbereitungen zur Großdemo auf dem Alexanderplatz am 4. November 1989. Eine Bereicherung für den Abend war vor allem, dass sie auch persönliche Erinnerungen und Anekdoten an diese Zeit am Haus einstreute, z.B. als Ulrich Mühe, der damals gerade die Hauptrolle für die legendäre „Hamlet/Hamletmaschine“ probte, einen Dissidenten-Text las und der Saal so überfüllt war, dass es bis auf den Vorplatz übertragen werden musste. Mit schelmischem Lächeln erzählte sie, wie sich Dieter Mann als Intendant im Sommer 1988 vergeblich bemühte, bei den Behörden die Genemigung zu bekommen, Michail Schatrows damals neues Stück „Weiter… weiter… weiter“ aufführen zu dürfen. Rosa Luxemburgs berühmter Satz über die „Freiheit der Andersdenkenden“, der darin auftauchte, war für die Genossen ein Rotes Tuch. Das DT behalf sich mit einem Trick: Friedo Solter inszenierte das in den Augen der Nomenklatura weniger problematische Glasnost-Stück „Diktatur des Gewissens“ vom selben Autor, das zwei Jahre zuvor erschienen war, und schmuggelte die Luxemburg-Passagen als „Fremdtext“ (wie man heute sagen würde) in die Inszenierung ein, die ein Jahr vor dem Mauerfall in den Kammerspielen des DT zum Hit wurde.

Die interessanteste an diesem Abend vorgetragene Rühle-Passage stammt aus einer Kritik von 1997: er konstatiert eine Zeitenwende, dass Ego-Shooter wie Henry Hübchen und Sophie Rois an Castorfs Volksbühne dominieren und vor allem ihre unverkennbare Persönlichkeit einbringen, während es immer seltener große Auftritte des psychologischen Einfühlungs-Theaters á la Gert Voss, Edith Clever oder Kirsten Dene gibt, auch Ulrich Matthes erwähnte er in dieser Aufzählung.

Ganz zum Schluss ließ es sich Claus Peymann, der als Uraufführungsregisseur von Handkes „Publikumsbeschimpfung“ und langjähriger Intendant großer Häuser diese Ära entscheidend prägte, nicht nehmen, auch noch ein paar Worte über seine Weggefährt*innen zu sprechen.

Buchcover: S. Fischer Verlag

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