Jérôme Bel/Ruth Rosenfeld

Am hinteren linken Bühnenrand sitzt Ruth Rosenfeld vor ihrem Laptop und begrüßt das Publikum im HAU 2 lächelnd: Jérôme Bel sei ihr Name und die folgenden zwei Stunden könnten ganz schön langweilig werden. Deshalb solle man doch ganz ungeniert gehen, wenn es zu viel werde, das störe sie nicht. Eine überraschende Wendung sei jedenfalls nicht zu erwarten.

Der erste Teil dieser Einführunf ist offensichtlich eine Lüge: Ruth Rosenfeld, seit 2017 Mitglied im Ensemble der Schaubühne einige Kilometer weiter westlich, ist eine Schauspielerin, die schon mehrfach bewiesen hat, dass sie auch eher faden Abenden mit ihrer Performance und ihren Songs einen Energieschub verpassen kann. Sie leiht den Reflexionen des französischen Choreographen Bel nur ihre Stimme.

Wegen des Klimawandels hat er schon vor einigen Jahren begonnen, unnötige Flugreisen zu vermeiden. Sein autobiographisches Projekt, das er während der Lockdowns entwickelt hat, funktioniert folgendermaßen: seine Gedanken und Erinnerungen trägt jeweils eine Schauspielerin/ein Schauspieler in der Landessprache vor Ort vor, dazu werden Video-Schnipsel und Fotos eingespielt.

An der zweiten Aussage von Ruth Rosenfeld ist ein wahrer Kern: Tatsächlich beginnt der Abend zäh und ermüdend. Es wirkt wie die narzisstische Nabelschau eines älteren weißen Mannes, wenn er tief in seine Kindheit und Jugend eintaucht und eine wesentlich jüngere Frau zu seinem Medium macht, das seine Texte vorträgt. Bels Tanzbegeisterung habe ein Gastspiel von Pina Bausch geweckt, von einer ersten eigenen Arbeit lässt er Fotos einblenden. Überfrachtet mit Theorien, beseelt von antikapitalistischer Konsumkritik und Guy Debords „Die Gesellschaft des Spektakels“, setzte er seinem Publikum damals quälend-verkopfte Abende vor, bei denen möglichst wenig Emotion aufkommen sollte und es auf keinen Fall spektakulär zugehen durfte. Bei einem Festival-Gastspiel sei der Saal am Ende leer gewesen, nur noch der Intendant, seine Frau und seine Pressesprecherin seien im Saal geblieben. Wie gut man die Gründe für diese Massenflucht nachvollziehen kann! Die Aussicht, die merkwürdige Installation, die Rosenfeld/Bel beschreiben, eine Stunde ertragen zu müssen, ist wirklich grauenhaft. Aber auch dieser Abend im HAU ist bis dahin nicht sehr vergnüglich, sondern trockene Lecture Performance-Pflichtübung. Wie soll das nur in den restlichen anderthalb Stunden weitergehen?

Rosenfeld/Bel erzählt von anderen, weithin vergessenen Werken und privaten Krisen, bis der Abend beim ersten Höhepunkt im Werk des Choreographen ankommt: „The Show must go on“ war ein Ereignis, als es 2000 am Schauspielhaus Hamburg lief. Bis heute wird es gespielt, zuletzt war es in Berlin während Chris Dercons kurzer Volksbühnen-Intendanz 2017 zu sehen. Das Konzept des Anti-Spektakels und das Spiel mit den Erwartungen hat Bel mit diesem Dauerbrenner perfektioniert. In einer Mischung aus Anekdoten und Selbstreflexion erklärt Rosenfeld/Bel die gezeigten Filmausschnitte, die Kamera schwenkt immer wieder ins damalige Publikum. Spannend zu sehen, wie die Reaktionen zwischen Ratlosigkeit und Amüsement schwankten.

Ähnlich legendär wie „The Show must go on“ ist Bels Zusammenarbeit mit dem Zürcher Theater Hora: „Disabled Theater“ war ein Meilenstein des inklusiven Theaters. Die Spieler*innen wirken nicht gehandicaped oder behindert, sondern traten als selbstbewusste Persönlichkeiten auf, die ganz eigene, oft überraschende Qualitäten haben und den Abend mit ihrer enormen Spielfreude zum Spektakel machten. Seine Zusammenarbeit mit dem Theater Hora wurde nicht nur 2013 zum Theatertreffen eingeladen, sondern führte ihn auch von seinem alten Mantra weg. Der Lehrsatz, Spektakel um jeden Preis zu vermeiden, wich einer entspannteren Haltung. Rückblickend erklärt er sich die mönchische Strenge und das Verbannen aller sinnlichen Theatergenüsse als seine unbewusste Reaktion auf den Schmerz, als er mitansehen musste, wie mehrere Freunde auf dem Höhepunkt der AIDS-Krise starben.

Mit dem „Disabled Theater“ ist auch die HAU-Lecture auf der richtigen Betriebstemperatur angekommen. Es folgen noch ein paar schöne Ausschnitte aus seiner weniger erfolgreichen Nachfolge-Arbeit „Gala“. Selbstkritisch berichtet Rosenfeld/Bel von den vielen Tänzer*innen- und Choreograph*innen-Porträts, die er in den folgenden Jahren entwickelte, die er aber auch ganz realistisch selbst nur als halbwegs gelungen einstuft, bis er schließlich bei „Isadora Duncan“ ankommt, seiner letzten Arbeit vor Ausbruch der Pandemie, die in der Sommerhitze 2019 bei „Tanz im August“ im DT Berlin gastierte. Hier, ganz zum Schluss, steht auch Ruth Rosenfeld erstmals vom Schreibtisch und Laptop auf, greift mit einem kleinen Reenactment in die Video-Aufführung ein, ehe die Vorstellung mit einem kurzen Fazit ausklingt.

Trotz des kargen Settings und entgegen der selbstironischen Warnungen zu Beginn entwickelte sich die autobiographische Lecture Performance zu einem überraschend anregenden Abend, der einige aufschlussreiche Einblicke in das Schaffen eines wichtigen Choreographen bot. Bel analysiert seine Irrwege ebenso nüchtern wie seine Erfolge und zeichnet in zwei Stunden die wichtigsten Entwicklungsstadien seiner künstlerischen Arbeit aus drei Jahrzehnten nach.

Bild: Jérôme Bel

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