Auf engstem Raum drängt sich das Ensemble auf der Vorbühne, hinter ihnen ragt das Bühnenbild hervor, das albtraumhafte Motive von Hieronymus Bosch zitiert. Als Live-Bühnenmaler ist Tim Burchardt weiter damit beschäftigt, das Gemälde zu vervollständigen, während sich vorne der russische Debattierzirkel die Köpfe heiß redet.
Zweieinhalb Stunden lang wird hier lamentiert und diskutiert, über Gott und die Welt, über den Sinn der Existenz, über Suizid und Revolte. Zwei Männer geben mit steilen Thesen den Ton vor: am rechten Bühnenrand steht Sebastian Zimmler, der nach seinem Studium ins Thalia-Ensemble kam und seit mehr als einem Jahrzehnt vor allem Inszenierungen von Jette Steckel und Antú Romero Nunes prägt. Er spielt den Revolutionsführer Pjotr Werchowenski, der damit kokettiert, dass er das Publikum für dumm hält, aufrührerische Reden schwingt und in großen schwarzen Boots hinter seinem DJ-Set steht. Ähnlich eloquent ist Alexej Kirillow (Nils Kahnwald, Schauspieler des Jahres 2019, der nach zwei Spielzeiten in Zürich und kurzzeitiger freier Arbeit ins Thalia-Ensemble wechselte). Er proklamiert den Suizid als logische Konsequenz aus der Sinnlosigkeit des Daseins und hat eine schöne, kleine Choreographie entwickelt, wie er sich selbst die Kugel in den Kopf schießen möchte. Wie eine Flipperkugel wird Nikolai Stawrogin (Jirka Zett) hin und hergeworfen, als „schillernd und ungreifbar“ wird diese Figur im Programmheft angekündigt, die rätselhaft und eine Leerstelle bleibt.
Unermüdlich wälzen die Figuren mit quietschbunt gefärbten Haaren ihre philosophischen Diskurse. Das Publikum ist zu harter gedanklicher Arbeit herausgefordert. Kaum eine Atempause und nur wenige spielerische Momente gönnt Thalia-Hausregisseurin Jette Steckel ihrem Publikum und ihrem Ensemble. Oft hat sie bewiesen, dass sie leichtfüßige Abende wie z.B. ihr Popmärchen „Romeo und Julia“ zaubern kann, auch aus so schwerer philosophischer Kost wie dem „Caligula“-Thesenstück von Albert Camus machte sie zu Beginn ihrer Karriere gemeinsam mit Mirco Kreibich in der Box des Deutschen Theaters herausforderndes und miteißendes Theater. Doch diesmal lasten die statischen Tableaus und die enormen Textmassen gewaltig auf diesem langen Premierenabend mitten in der Arbeitswoche, mit dem das Thalia Theater sein Lessingtage-Festival einläutet.
Völlig unvermittelt explodiert das über zwei Stunden bedeutungsschwer kreisende Diskurstheater in einer hypernervösen Choreographie, in der das Ensemble zuckt und zappelt. Erstaunlich, mit wie viel Elan und Beweglichkeit Barbara Nüsse in diesem Trubel mittendrin ist, obwohl sie in wenigen Wochen ihren 80. Geburtstag feiert. Ihr gehört auch der schöne Schlussmoment: „Leben Sie mehr!“, ruft sie uns im Saal zu und haucht ein letztes „Adieu“ hinterher, bevor sie seitlich am Bühnenrand abgeht.
Mehr Lebendigkeit wäre auch ein Wunsch für diese ambitionierte, aber unter ihrer Materialfülle ächzende philosophische Diskurshölle, durch die Jette Steckel, Albert Camus und Fjodor Dostojewski das Publikum an einem Abend schicken, der vor der Premiere noch auf 2,5 Stunden gekürzt wurde. Eigentlich müsste er fünf Stunden, erklärte Jette Steckel im Programmheft-Interview. Nur dann könnte sie alle philosophischen Gedanken der Vorlage unterbringen.
Bild: Armin Smailovic