Iwanow

Die Berliner Theater überbieten sich in dieser Spielzeit mit Tschechow-Bearbeitungen. Nach Timofej Kuljabin, der den „Platonow“ am DT in ein Altersheim für Künstler verlegte, und Christian Weise, der im Gorki-Studio eine klassische „Drei Schwestern“-Inszenierung bei seinem Reenactment karikierte, nahm sich die litauisch-amerikanische Regisseurin Yana Ross den „Iwanow“ vor.

Nach einigen Jahren als Hausregisseurin am Schauspielhaus Zürich, die mit einer von der Presse sehr kritisch aufgenommen „Reigen“-Überschreibung als Koproduktion mit den Salzburger Festspielen endete, gab Ross gestern ihren Einstand am Berliner Ensemble. Mehrere Inszenierungen sollen in den nächsten Jahren folgen. Es ist zu hoffen, dass sie dann ein glücklicheres Händchen haben wird als bei ihrem Debüt.

Für den „Iwanow“ hatte sie ein hervorragendes Ensemble an ihrer Seite, aber ihr Regie-Konzept war so dünn, dass sie das Scheitern des Abends auch nicht verhindern konnten. In den Spuren von Simon Stone versuchte sie, den russischen Klassiker in die Gegenwart zu verlegen. Gelangweilt sind auch ihre Figuren. Aber statt des intellektuellen Landadels, der der Oktoberrevolution entgegendämmmert, erleben wir am BE das Vereinsheim des Tennisclubs Netzroller im westfälischen Gütersloh, das als klischeehafter Inbegriff von Provinzialität herhalten muss.

Die Grundkonstellation des Dramas wird beibehalten, nur im Stone-Stil ins Heute verlagert. Die Figuren bekommen neue Namen: Iwanow wird beispielsweise zu Nicolas (Peter Moltzen), seine Frau Anna zu Sarah (Constanze Becker). Wie bei Stone, dem Vorbild dieses Überschreibungs-Hypes der vergangenen Jahre, ist auch diesmal zu konstatieren: Es bringt keinen Mehrwert, den bekannten Plot in die Gegenwart zu verlegen, im Gegenteil, das Tschechow-Stück wird bei Ross nur verzwergt.

Über weite Strecken plätschert das verbale Pingpong dahin, gelungene Ballwechsel oder gar ein Ass sind nicht zu bestaunen. So verloren und deplatziert wie ihre krebskranke Figur Sarah wirkt auch Constanze Becker, eine der begabtesten Schauspielerinnen ihrer Generation, in diesem belanglosen Palaver, das Ross aus der Vorlage destilliert hat. Immerhin setzt Becker mit einem melancholischen Rock-Song unmittelbar vor der ersehnten Pause einen Lichtblick.

An zwei Stellen blitzten interessante Themen auf. Mit mehr Geschick hätte Ross hier in Richtung eines unterhaltsamen Well Made Play-Edelboulevards abbiegen können, aber auch diese Chancen hat sie vergeben: Die Influencerin Marta (Zoë Valks) karikiert die Remix-Versionen des Lady Gaga-Songs „Bloody Mary“, mit denen ihre realen Kolleginnen die Social Media-Kanäle von Instagram bis TikTok fluten. Doch es bleibt bei einer kurzen Einlage zum Schmunzeln. Verschenkt war auch die Idee, die Absurditäten der identitätspolitischen Selbstzerfleischungsdebatten in einem Stuhlkreis zu karikieren, da die Umsetzung zu ideenlos und oberflächlich bleibt. 

So zählt dieser „Iwanow“-Einstand trotz starken Ensembles zu den Enttäuschungen der Saison.

Ein Rätsel bleibt, warum so viele Bühnen momentan auf Tschechow zurückgreifen, allerdings meist nicht auf das Original, sondern mehr oder minder originelle Verfremdungen. Sicher: Die Krisenstimmung verbindet seine Milieuzeichnungen mit unserer Gegenwart. Aber statt Langeweile und Stillstand erleben wir derzeit eher die Überforderung durch sich überlappende und beschleunigende Krisen und die Reizüberflutung. Dazu passen die Texte von David Foster Wallace: mit einem Auszug aus seinem Essay  „Am Beispiel des Hummers“ (eingelesen von Marc Oliver Schulze), beginnt der Abend, auch die für diesen Abend zentrale Tennis-Metapher durchzieht sein Werk, das Berliner Publikum erinnert sich noch an Ursina Lardis Auftrtt als Tennis-Wunderkind in „Unendlicher Spaß„.  Mit ihrer Zürcher Adaption von „Kurze Interviews mit fiesen Männern“ schaffte es Ross im vergangenen Jahr auf die Longlist des Theatertreffens, ein ähnlicher Erfolg ist ihr auch mit künftigen Berliner Arbeiten zu wünschen.

Bild: Matthias Horn

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