Fantômas

Die Erwartungen an einen Abend von René Pollesch sind klar: die Publikumslieblinge spielen sich die Bälle zu, tänzeln durch soziologische und philosophische Schnipsel, lamentieren über das Beziehungsleben und surfen auf dem Zeitgeist. Das Ganze wird abgeschmeckt durch ein paar Anpielungen auf Serien oder andere aktuelle Erzeugnisse der Popkultur. Sicher schien: nach 90 Minuten ist Schluss und geht es zum Sekt an die Bar, bei seinen Ausflügen ans Deutsche Theater Berlin machte Sophie Rois gerne schon nach 70 Minuten Feierabend.

Ganz anders diesmal bei „Fantômas“: knapp drei Stunden dauert die neue Produktion. Für Frank Castorfs Maßstäbe ist das zwar immer noch Kurzstrecke. Aber Pollesch orientiert sich diesmal recht deutlich an seinem Vor-Vor-Vorgänger als Intendant am Rosa-Luxemburg-Platz. Das Publikum braucht nicht nur doppelt so viel Sitzfleisch wie üblich, er zitiert auch die elend langen Live-Video-Szenen von der Hinterbühne: Vor allem Martin Wuttke und Benny Claessens mäandern durch endlose Mono- und Dialoge, die aus den entlegenen Winkeln von Leonard Neumanns Bühne übertragen werden.

Außerdem ließ sich Pollesch von Castorfs Vorliebe für russische Wälzer aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts anstecken: „Petersburg“ von Andrej Belyi wird in der Liste der Werke genannt, die diesen Abend inspirierten und von denen viele Zuschauer wohl das erste Mal hören. Dem russischen Symbolismus sei dieses Werk zuzuordnen, klärt Google auf.

Besonders erhellend ist dieser Hinweis nicht, denn die Stränge, die Pollesch und sein Team munter verknäuelten und mixten, lassen sich kaum entwirren. Erkennbar ist noch, dass Kathrin Angerer und Benny Claessens als russische Agenten chargieren und ihre Figuren aus der Serie „The Americans“ (2013-2018), weitere Anspielungen gibt es auf „Irma Vep“ (2022) von Olivier Assayas und die „Fantômas“-Serie von Claude Chabrol/Luis Buñuel. Ganz oben steht Uwe Nettelbecks „Fantômas – Eine Sittengeschichte“, das im kleinen Verlag seiner Frau erschien und nur noch antiquarisch zu bekommen ist: der Gerichtsreporter der ZEIT hatte sich mit der Redaktion überworfen und verfasste anschließend materialreiche, assoziative Texte, die auch nur den wenigsten bekannt sein dürften.

Die wesentlich populärere mehrteilige „Fantômas“-Kino-Reihe, in der Jean Marais als Gangster den trotteligen Inspektor (Luis de Funès) regelmäßig düpierte, taucht im Begleitmaterial nicht auf. Eine kleine Andeutung an den typischen de Funès- „Ja! Nein! Doch!“-Humor gibt es in der Szene, in der Kathrin Angerer mehrfach entrüstet abstreitet: „Ich hab nicht düster gekuckt!“ und ihr die Männer widersprechen.

Diese Slapstick-Nummern sind kurze Inseln im öden Wortschwall. Den größten Applaus bekommt natürlich Martin Wuttke für eine mehrminütige Performance, in denen er die Wandlungsfähigkeit des „Fantômas“-Gesichts plastisch schildert. Symptomatisch für das Scheitern dieses zähen Abends ist allerdings, dass sie viel, viel kürzer ausfiel als noch in der Presse-Fassung des Stücktexts abgedruckt. Wuttke hangelte sich mit Hilfe der bewährten Souffleuse Elisabeth Zumpe durch eine gekürzte Version, die er vorzeitig abbrach.

Dieser „Fantômas“ polarisiert sein Publikum: viele strebten zur Tür, die unter strafenden Blicken von Wuttke/Claessens laut krachend zufiel. Die eingefleischten Fans jubelten den Kabinettstückchen ihrer Lieblinge Angerer/Claessens/Wuttke zu, die von zwei Side-Kicks in Tabea Brauns Fantômas-Ganzkörper-Kostümen begleitet wurden: Campbell Caspary war schon als Cowboy im Drama von Constanza Macras sehr präsent, Sonja Weißer kommt aus dem hauseigenen P14-Nachwuchs.

Nach sich quälend dahinziehenden, um Angst und Verrat kreisenden knapp drei Stunden bleibt zu konstatieren, dass es wesentlich weniger zu lachen gab und dass die oft sehr entlegenen Fundstücke viel seltener mit den gegenwärtigen Diskursen kurzgeschlossen wurde, als wir dies sonst von Pollesch gewohnt sind.

Bild: © Apollonia T. Bitzan

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert