Die Vaterlosen

Groß ist der Jubel nach diesen fast vier sehr anstrengenden Stunden im Haus der Berliner Festspiele. Joachim Meyerhoff, nach vielen Jahren am Burgtheater mittlerweile ein paar Kilometer westlich an der Schaubühne zuhause, ist mit einer weiteren großen Tschechow-Show zu Gast. In Thomas Ostermeiers „Die Möwe“-Inszenierung erspielte er sich als Trigorin im März 2023 eindrucksvoll den Titel als aktuelle Schauspieler des Jahres. Wenige Monate später kam am 3. Juni 2023 in den Münchner Kammerspielen das wesentlich seltener gespielte Tschechow-Frühwerk „Die Vaterlosen“ in Jette Steckels Regie heraus. Meyerhoff gibt den Platonow als widerlichen Stinkstiefel, dem dennoch alle Frauen zu Füßen liegen.

Der Star unter all den Promis, die dieser Abend auffährt, legt natürlich einen bemerkenswerten Rampensau-Auftritt hin. Er macht alle und jeden um ihn herum zur Schnecke, von der vor der Pleite stehenden Generalswitwe (Wiebke Puls) bis zu den beiden älteren Herren, die über den Krieg plaudern. Volksbühnen-Dramaturgie-Legende Carl Hegemann lädt zu jeder Vorstellung einen anderen Gast, diesmal seinen Kollegen Wolfgang Storch.

Meyerhoff sorgt für viele Lacher und holt das gutsituierte Wilmersdorfer Festspiel-Publikum offenkundig ab. Nach einigen Ausgaben, bei denen sich die Juror*innen in ihre persönlichen Vorlieben eingruben und manche Inszenierungen in die 10er Auswahl zerrten, die die Zuschauer kalt ließen, gibt es diesmal auffallend viele Schauspiel-Feste mit großen Namen, wie sie nur die ganz großen Tanker unter den Staats- und Stadtheatern stemmen können. Morgen folgt auf Meyerhoff gleich schon Lina Beckmann mit ihrem Hamburger „Laios“-Solo.

Der Star legt aber auch den Finger in eine Wunde des Abends. Nach einer Stunde witzelt er zum Publikum, dass ja nun schon viel Zeit vergangen sei, aber hier vorne vor dem Eisernen Vorhang nur Banalitäten ausgetauscht worden seien. Treffer, versenkt. Genau so fühlt sich der Ennui der Tschechow-Figuren an, die Jette Steckel hier auf die Bühne bringt.

Nach diesem kurzen, selbstironischen Einwurf dauert es aber noch anderthalb Stunden, bis das Publikum in der Pause durchatmen kann. Bis dahin bekommen die Figuren von alt (Walter Hess als Oberst im Ruhestand) bis jung (Abel Haffner als Sohn des Gutsbesitzers) ihr Fett weg, am liebsten stänkert Meyerhoff gegen die „Muppet-Opas“, wie er sie abkanzelt, die in unregelmäßigen Abständen zur nächsten „Dad Men Talking“-Runde reingeschoben werden. Auf die Dauer wirken diese virtuosen Rumpelstilzchen-Nummern aber ziemlich redundant. Es fehlt die Fallhöhe. Bei einer der ersten Münchner Vorstellungen war der für sein gewaltiges Selbstbewusstsein bekannte Promi-Anwalt und Mäzen Peter Raue in Hegemanns Sessel zu Gast. Was wäre das für ein Sparringspartner für Meyerhoffs Frotzeleien gewesen! So laufen die knapp vier Stunden aber zu oft leer, werden nur Locken auf der Glatze des Hauptdarstellers gedreht.

Das liegt auch daran, dass die Entwicklung der Frauen-Figuren nicht einleuchtend gezeichnet ist. Was fasziniert die Anna Petrowna Wojnizewa (Wiebke Puls) oder die Sofja Jegorowna (Katharina Bach) so sehr, dass sie sich an den toxischen Dorfschullehrer Platonow (Meyerhoff) ranschmeißen. Bach ist in der Rolle besetzt, die sie an den Münchner Kammerspielen fast immer spielt: die vor Wut ausrastende Frau. Warum merken die beiden erst viel zu spät, mit was für einem seltsamen Typen sie es hier zu tun haben, bis Puls ihn nach dem letzten Wutausbruch endlich abknallt? Dieses Frauenbild aus dem späten 19. Jahrhundert ist deutlich aus der Zeit gefallen. Als Fremdtext-Einschub gibt es nach der Pause deshalb einen plakativen feministischen Monolog der Schweizer Dramatikerin Katja Brunner.

Bemerkenswert ist neben den virtuosen Nummern des Hauptdarstellers im Schlagabtausch mit seinen Kontrahentinnen vor allem das Stangenwald-Bühnenbild, das Steckels langjähriger Arbeitspartner Florian Lösche entwarf. Es dient als Party-Location auf dem russischen Landgut und als Parcours, in dem sich Platonow mehr und mehr verheddert, bis er schließlich wie ein erlegtes Wild an den Stangen aufgespießt wird, bevor er den Gnadenschuss bekommt.

Richtig hoch ging es nach Augen- und Ohrenzeugenberichten beim mitternächtlichen Nachgespräch her, als es zum Eklat zwischen Meyerhoff und dem auch hier endlos mäandernden Hegemann gekommen sein soll.

Bild: Armin Smailovic

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