„Jetzt machen wir doch mal eine Abstimmung“, fordert Bernd Moss das DT-Premierenpublikum wiederholt auf. Wie auch die restlichen Mitglieder der schrecklich netten und höchst unglücklichen Familie Tyrone ist auch er ganz in Blutrot gekleidet (Kostüme: Una Jankov). Er thront als James Tyrone mitten im Zuschauersaal und dirigiert die Abstimmungs-Spielchen, an denen sich immer weniger Zuschauer beteiligen.
In den Rang haben sich seine morphiumsüchtige Gattin Mary Cavan Tyrone (Almut Zilcher) und seine Söhne James Tyrone jr. (Moritz Kienemann) und Edmund Tyrone (Svenja Liesau) zunächst zurückgezogen. Die Türen sind noch offen, das Saallicht an und der Eiserne Vorhang heruntergelassen. Julia Gräfner bewacht diesen vermeintlich defekten Eisernen Vorhang in ihrer Doppelrolle als DT-Inspizientin und Hausmädchen Cathleen der Tyrones.
Regisseur Sebastian Nübling versucht sich in den ersten beiden Akten an einer Parodie der Theaterkonventionen und Sehgewohnheiten. In dieses gescriptete Gag-Schema passt auch, dass Souffleuse Heike mehrmals vermeintlich korrigierend eingreifen muss. Meist sind die Spieler*innen jedoch damit beschäftigt, sich brutale Wahrheiten ins Gesicht zu brüllen.
Während O´Neill die langsam bröckelnde Fassade einer vermeintlich heilen Welt im Stil des psychologische Realismus beschrieb, ist hier jeder Versuch des Schönredens und Verdrängens, in dem vor allem Mutter Mary eine Meisterin ist, offensichtlich zwecklos. Zwischen Improvisationen und einer recht freien Fortschreibung der 1992 erschienen O´Neill-Übersetzung von Michael Walter erleben wir das Zerrbild einer besonders dysfunktionalen Familie.
Als der Eiserne Vorhang zum dritten Akt endlich hochgeht, erleben wir ein Verzweiflungs-Solo von Almut Zilcher im grellen Gegenlicht. Begleitet vom restlichen Ensemble hinter Kaninchen-Masken legt eine der großen Schauspielerinnen des DT ein Kabinettstückchen hin. Trotz solcher Einzelleistungen bleiben die 2 Stunden 10 Minuten disparat, wohin Regisseur Sebastian Nübling und Christopher-Fares Köhler steuern wollen, bleibt unklar im Bühnen-Nebel. Ein Programmheft, das etwas Erhellendes beitragen könnte, fehlt bei dieser Produktion.
Überraschend und unverhofft landet der Abend mit einem Epilog von Sivan Ben Yishai (übersetzt von Gerhild Steinbuch) dann doch noch in der Tagesaktualität. Julia Gräfner trägt eine gekürzte Version des Textes „How to stay“ vor, der als „Poetische Position“ für die Veranstaltungsreihe „DIE KUNST, VIELE ZU BLEIBEN. Bundesweite Foren für Kunst, Freiheit und Demokratie des Fonds Darstellende Künste“ entstand und im Spätsommer 2024 beim Kunstfest Weimar vorgestellt wurde. Am DT wird er zum düsteren Nachklapp, der den Bogen von Krankheit, Chemotherapie und Tod hin zu Gewalt und Abschiebung schlägt. Damit landet der Premieren-Abend am Ende dieses denkwürdigen Tages, an dem Angela Merkel mit ihrem Parteifeind und möglichen Nach-Nachfolger im Kanzleramt abrechnete, mitten in der politischen Debatte um Migrationspolitik. Doch auch zu diesen Themen hat die „Eines langen Tages Reise in die Nacht“-Inszenierung von Sebastian Nübling, der nach vielen Jahren am Gorki erstmals am DT arbeitete, nichts Erhellendes beizutragen.
Bilder: Thomas Aurin