Verräter. Die letzten Tage

Vor allem die erste halbe Stunde bietet starke, klug verdichtete Monologe: Mareike Beykirch sinniert über ihre Herkunft aus einem Plattenbau-Viertel in Sachsen-Anhalt. Sie erinnert sich an eine glückliche Kindheit mit Matchbox-Autos und der schönen, neuen Warenwelt im Rewe-Supermarkt nach dem Mauerfall. Die Mutter trennt sich von ihrem Partner, zieht mit den Kindern in einen billigeren, noch tristeren Plattenbau und hält sich mit einem Putzjob über Wasser. Mit den Jahren wird die Lage noch prekärer: Beykirch erinnert sich an die Depressionen der arbeitslosen Verwandten, an die Verlorenheit auf den Spaziergängen über grau-braune Felder und an die Gänge zum Jobcenter, weil ihre Mutter inzwischen Hartz IV beantragen muss.

Mareike Beykirch stellt sich die Frage: Ist sie eine Verräterin? Ist es Verrat ihrer Herkunft, dass sie ihren anhaltinischen Dialekt abtrainiert, in die Großstadt zieht, Schauspielerin wird, in Künstlerkreisen verkehrt, bei Akademikernk angesagte Bücher wie „Rückkehr nach Reims“ liest? Ist es Verrat, dass sie mit ihrer Mutter keine gemeinsame Ebene mehr findet und sich mit ihr nicht vernünftig unterhalten kann?

Der nächste starke Monolog gehört Mehmet Atesci, der vom ersten gemeinsamen Urlaub mit seinem Freund Christian in Istanbul erzählt. Freitag Nacht im Juli, als sich die  Eilmeldungen über den bis heute ungeklärten Putschversuch überschlagen, geraten sie in Panik. Gemeinsam mit Unbekannten landen sie in einer Wohnung, kauern sich auf den Boden. Atesci zieht die Hand weg, als sein Freund danach greift. Ist es Verrat, dass er in dieser bedrohlichen Situation nicht zu seiner Homosexualität und seinem Partner stehen will, weil er die Reaktionen der türkischen Männer um ihn herum fürchtet?

Verraeter_Gorki_Foto © Esra Rotthoff

Die Angst wächst, als Atesci auf seinem Smartphone den Aufruf von Erdogan erhält, dass alle Bürger auf die Straße gehen und die Demokratie verteidigen sollen. Ist es Verrat, dass er und sein Freund schnell zum Flughafen aufbrechen und im Bus, als Polizisten die Ausweise kontrollieren, demonstrativ Deutsch sprechen? Ist es Verrat, möglichst schnell nach Kreuzberg zu fliegen und die Türkei, die Heimat seiner Eltern, ihrem Schicksal und dem autokratischen Kurs von Erdogan zu überlassen?

Wie viel an diesen beiden Monologen tatsächlich autobiographisch ist und was einfach nur gut erfunden ist, bleibt offen.

Falk Richters neuer Abend „Verräter. Die letzten Tage“ hält dieses Niveau jedoch nicht. Die Übergänge werden holpriger, die Szenen fahriger. Überflüssig wirkt ein Exkurs von Daniel Lommatzsch, der den Regisseur Jakob mimt, der aus dem Holocaust ein Musical im „La La Land“-Style machen möchte.

Mit zu vielen Längen schleppt sich der Abend weiter, um am Ende eine große Ratlosigkeit zu konstatieren. Vor zwei Jahren war Falk Richter mit seiner fulminanten Abrechnung „Fear“ (Kritik) noch selbstgewiss, die Fronten waren klar. Jetzt haben er und wohl auch die meisten im Publikum das Gefühl, in einer ungewissen Übergangszeit zu leben: Trump wurde wider Erwarten neuer US-Präsident und hält die Facebook- und Twitter-Community sowie seine Anhänger in Dauererregung. Wohin entwickelt sich das? Endet er als „Horror-Clown“ bald so peinlich wie der Rechtspopulist Ronald Schill, den Mareike Beykirch während einer Gastspielreise in einem Trash-Format auf RTL 2 entdeckte?

Diese Fragen stellt sich das Ensemble, während es durch endzeitliche schwarze Morastlandschaften watet und am Ende des Abends demonstrativ aneinander vorbei redet. Jeder für sich eine eigene Textfläche und Mehmet Atesci darf noch ein mal zeigen, wie schön er singen kann.

„Verräter. Die letzten Tage“ hatte am 28. April 2017 am Gorki Theater Premiere. Weitere Informationen und Termine

Bild: Esra Rotthoff

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