Eine Odyssee

Mit Spannung wurde der Einstand des isländischen Regisseurs Thorleifur Örn Arnarsson als neuer Schauspieldirektor der Volksbühne erwartet. Seine Hannoveraner „Edda“ war eine der meistdiskutierten Arbeiten der vergangenen Spielzeit und war auch auf der Longlist des Theatertreffens, verpasste jedoch die Einladung in die Auswahl der besten zehn Inszenierungen. Aus meiner Sicht zurecht: zu fahrig verzettelte sich Arnarsson in seiner „Edda“ in den Motiven der nordischen Sagenwelt, trotz bildgewaltiger, gelungener Momente wirkte der Abend überladen und letztlich nicht überzeugend.

Auch in seiner ersten Berliner Inszenierung tauchte er in die Welt der antiken Mythen ein: gemeinsam mit seinem bewährten Co-Autor Mikael Torfason machte er sich an eine Überschreibung von Homers „Odyssee“. Was für ein Auftakt: Das volksbühnen-typisch besonders spät in den Saal tröpfelnde Publikum wird bereits mit den Aufwärmübungen zu einer knapp einstündigen Choreographie begrüßt, mit der Arnarsson fulminant loslegt.

Diese erste Stunde ist ein Theater-Genuss, kombiniert souverän Sprechtheater, Tanz und Live-Musik und schlägt das meiste, was zum Auftakt dieser Berliner Spielzeit bisher zu sehen war, um Längen. Zwischen düsteren Nebelschwaden und im Dämmerlicht steigert sich die im Chor gesprochene und getanzte Erzählung von der List des Odysseus, die griechischen Truppen im Trojanischen Pferd einzuschmuggeln, in einen beklemmenden Bericht von der Brutalität des Krieges.

Die Präzision, mit der diese lange Sequenz einstudiert wurde und von Chorleiter Nils Strunk dirigiert wird, ist beeindruckend. Die Vorbilder sind offensichtlich: Arnarsson orientiert sich an den Inszenierungen von Einar Schleef und Ulrich Rasche, findet dabei aber einen überzeugenden, eigenen Stil, der über bloßes Epigonentum hinausgeht. Nach dieser ersten Stunde ist klar: Arnarsson wird zurecht als einer der spannendsten jüngeren Regisseure gehandelt.

Die zweite Stunde bis zur Pause weist jedoch aus der „Edda“ bekannte Schwächen auf: die durchkomponierte Präzision weicht einer Achterbahnfahrt aus Höhen und Tiefen. Starke Bilder, einige überzeugende Soli, aber zu viel Stückwerk. Der Mittelteil der „Odyssee“ ist eine Nummernrevue, über weite Strecken auch noch hochklassig, aber manchmal ziellos. Vor der Pause mündet die Inszenierung in einen deutlich zu platten Moment ein: minutenlang wird von der Leiter herab eine lange Liste von Kriegen seit der Antike bis zur Gegenwart des syrischen Bürgerkriegs mit den jeweiligen Opferzahlen verlesen.

Genauso plakativ geht es leider nach der Pause weiter. Zwischen überdimensionalen Pappkameraden (John F. Kennedy, Bill Clinton und Donald Trump mit heruntergelassenen Hosen) erzählt Volksbühnen-Urgestein Silvia Rieger in der Rolle des Bashir von den Kriegseinsätzen im Irak und Afghanistan. Arg bemüht und zeigefingerhaft versuchen Arnarsson und sein Co-Autor Torfason anhand angeblich autobiographischer Erfahrungen ihrer Familien dem Publikum mit dem Holzhammer einzubläuen, wie schlimm das Grauen des Krieges ist und wie wenig sich in der menschlichen Geschichte geändert hat. Um diese banalen Erkenntnisse zu vermitteln, schleppt sich der Abend noch viel zu lange anderthalb Stunden dahin, hakt brav mehrere Stationen der Irrfahrt des Odysseus (Daniel Nerlich) ab, bis dieser schließlich neben seiner Penelope (Johanna Bantzer) angekommen ist. Verloren und still sitzen sie nebeneinander, bis es um sie schwarz wird. Aus der so glänzend gestarteten Inszenierung ist hier aber schon längst die Luft raus.

Mit Spannung wurde diese „Odyssee“-Premiere aber auch erwartet, weil sie das Theaterdebüt von Kino-Star Jella Haase war. Ein Coup von Klaus Dörr, die junge Schauspielerin, die für ihre rotzige Kreuzberger Street-Credibility bekannt ist und mit den „Fack ju Göthe“-Komödien ein Millionenpublikum erreichte, ins Ensemble der Volksbühne zu engagieren.

Sie trat als die schöne Helena auf, die menschliche Trophäe, die bekanntlich Auslöser des Trojanischen Krieges war. Sie wird von Menelaos (Theo Trebs) auf einem Panzer hereingefahren, wirkt aber auf der riesigen Volksbühne ziemlich verloren. Bei der Premiere fällt ihr die Umstellung von den Film-Großaufnahmen auf den ganz anderen, schon durch seine schieren Ausmaße einschüchternden Theaterraum noch sichtlich schwer. Ihr fehlt noch die Präsenz, die es braucht, um auf einer der am schwierigsten zu bespielenden, gewaltigsten Bühnen des Landes bestehen zu können. In einer Szene mit Theo Trebs und Nils Strunk ist sie fast nur Staffage. Hier lohnt sich ein zweiter Blick nach mehreren Vorstellungen, ob sie sich freispielen kann und den Sprung vom Film zum Theater schafft.

Bemerkenswert ist diese „Odyssee“ schließlich auch, weil Nils Strunk sich mit einem Ausrufezeichen in die Berliner Theaterszene katapultiert. Obwohl er an der HfS Ernst Busch studierte, war er hier bisher weitgehend unbekannt. In der vergangenen Spielzeit entwickelte er sich zum Shooting-Star des Münchner Residenztheaters und wurde dort mit dem Kurt Meisel-Förderpreis ausgezeichnet. In „Marat/Sade“, das ebenfalls in der engeren Wahl für das Theatertreffen war, wurde ich zum ersten Mal auf ihn aufmerksam. Sein Monolog, in dem er aktuelle politische Entwicklungen aufspießte, erinnerte in Witz und Schärfe an die Soli, mit denen sich Nils Kahnwald den Titel als „Schauspieler des Jahres“ erspielte. Ein weiteres Münchner Theater-Highlight war „Eine göttliche Komödie„, ein vor Energie und Spielfreude vibriender, sein Publikum herausfordernder Abend, in dem Strunk seine Qualitäten als Teamplayer zeigte.

Dass Strunk im anspruchsvollen Part des Chorleiters im ersten Teil der „Odyssee“ überzeugte, habe ich bereits eingangs erwähnt. Seine stärksten Szenen hat er jedoch im Mittelteil als „Telemachos“, wo er die gesamte Palette toxischer Männlichkeit demonstriert: von der Selbstüberschätzung des pubertierenden Jungen, der seine Mutter demütigt, bis zur Verzweiflung, die in einen Suizid-Versuch mündet.

Im schnellen Wechsel reiht Nils Strunk mehrere Soli und einige Duette aneinander und zeigt eine große Wandlungsfähigkeit: mal präpotent, mal weinerlich, mal so schonungslos an die Grenzen gehend und am Strick baumelnd, wie man dies ansonsten höchstens von seinem ehemaligen Ensemble-Kollege Franz Pätzold kennt, einem weiteren hochbegabten Schauspieler, auf den München künftig verzichten muss.

In der Pause wurde dementsprechend von einigen Besucher*innen, deren Theater-Radius nicht bis zur Isar reicht, gegoogelt, mit welchem Talent wir es hier zu tun haben, das sich so eindrucksvoll präsentierte.

Bilder: Vincenzo Laera

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