Zugvögel

„Nicht küssen!“, ermahnen sich die Spieler*innen des Theater Shortvivant immer wieder gegenseitig. Vorschriftsmäßig agieren sie mit großem Abstand. Wie befreiend wirken in diesen Corona-Zeiten die Szenen, in denen Tizian (Luca Maurizio Wefes) beherzt Anlauf nimmt und auf Nikolaus (Jonas Fässler) zuspringt, der ihn zärtlich wie ein Kind im Arm hält und an seine Brust drückt! In gewöhnlichen Zeiten würden diese Aktionen gar nicht weiter auffallen, aber im Ausnahmezustand des Jahres 2020 werden sie zu kostbaren Momenten. Möglich war diese mehrfach wiederholte Szene nur, weil die beiden Schauspieler in einem Haushalt leben.

Während der restlichen zwei Stunden wirken die Figuren im Saal der Malzfabrik (in der Nähe des Bahnhofs Südkreuz) umso verlorener und einsamer. Als Tragikomödie über die Gentrifizierung wurde „Zugvögel“ von Cillian Mirau angekündigt. Durch den Corona-bedingten Abstand wirken die zehn Szenen wie ein Panoptikum skurriler Gestalten, die in die merkwürdige Welt eines Mietshauses geworfen sind und aneinander vorbeireden.

Der Text würde sich wohl auch in gewöhnlichen Zeiten nicht gut für die Bühne eignen: Zu viele Sätze verhallen in der Leere, zu oft wirken die Sätze raunend und ohne Kontext, zwischen den Figuren gibt es kaum Reibung, jeder scheint in seiner eigenen tragikomischen Blase gefangen. Durch den von Corona diktierten Abstand werden diese Schwächen des Textes noch deutlicher: der Abend wirkt wie eine lange Abfolge von Monologen der Spieler*innen, die meist noch in der Ausbildung an Berliner Schauspielschulen sind und kaum eine Chance haben, auf einander zu reagieren. Zu konturlos bleiben die Figuren, von denen man nur den Vornamen erfährt, zu unklar bleibt, in welcher Beziehung sie zueinander stehen.

Bilder: Theater Shortvivant

2 thoughts on “Zugvögel

  1. Henriette Reply

    Ich erlebte 2 Stunden ungewöhnliches und intensives Theater eines jungen und hoch engagierten Ensembles . Klasse, wie sich der hallenartige Raum und das Schauspiel verschmelzen. Es ist sicherlich Theater der besonderen Art mit Fragmenten und nicht für jeden gleich zugänglich. Aber wenn man genau hört und sieht und sich darauf einlässt entsteht ein hervorragendes Ergebnis. Endlich wieder Schauspiel in diesen Zeiten, und was hier jenseits vom subventionierten Hochglanztheater gezeigt wird gebührt alle Anerkennung! Es ist bereits meine 3. Inszenierung des Theaters Shortvivant in der Malzfabrik (und jedes mal wurde ein anderer beeindruckender Ort als Kulisse gewählt) und ich bin begeistert. Einen großen Dank an die Macher und die tollen Akteure. Bitte macht weiter und gebt nicht auf. Genau DAS macht(e) (eigentlich) Berlin aus.

  2. Lebenskünstlerin Reply

    Off-Theater der besonderen Klasse.

    Wir haben offensichtlich ein ganz anderes Theaterstück gesehen. Modern, coronaadäquat, beweglich und eben nah und fern in der Sprache, also zeitgemäß. Sich auf ein Stück vorher inhaltlich vorzubereiten hilft. Die Vorstellung verging wie im Fluge. Der Spaß der meist jungen Nachwuchsschauspieler ermuntert und springt trotz notwendiger Distanz über. Meine Freundin und ich waren kürzlich in einem sogenannten Staatstheater und das Stück war unerreichbar und ermüdend. Das „Nicht-Küssen“ war nicht der einzige durchlaufende Faden in der Inszenierung. Beziehungen trotz Abstand darzustellen ist herausfordernd und hat in ZUGVÖGEL funktioniert.

Schreibe einen Kommentar zu Henriette Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert