Gott ist nicht schüchtern

Mit zwei Überraschungen begann der gestrige Theater-Abend am Berliner Ensemble: Die Bestuhlung des Parketts ist schon fast wieder komplett. Die riesigen Lücken, die zwischen den verstreuten Sitzen klafften, werden als ikonisches Bild in kaum einem Jahresrückblick fehlen und gingen in den sozialen Netzwerken viral. Jetzt sieht das Parkett schon beinahe wieder wie früher aus.

Kultursenator Klaus Lederer kündigte vor wenigen Tagen an, dass die Berliner Theater bald wieder wesentlich mehr Plätze verkaufen dürfen, sofern die Klimaanlagen leistungsfähig genug sind und das Publikum auch während der Vorstellung Masken trägt.

Die Bühnen stehen nun vor der „Wahl der Qual“, wie sie die neuen Regeln mitten im laufenden Betrieb am besten umsetzen. Oliver Reese hat sich schon klar entschieden: Noch ist jede zweite Sitz-Reihe abgedeckt und derzeit muss der 1,5 m-Abstand eingehalten werden. Aber schon ab 25. September will das BE wieder rund 50 % der Plätze besetzen, wie die Pressestelle heute ankündigte.

Auch andere Theater sind in hektischer Betriebsamkeit: Im Deutschen Theater wird die Kapazität in den Kammerspielen ab 1. Oktober erhöht, nebenan im Großen Haus erst ab November.

Doch an diesem Abend gab es noch ein weiteres unvorhergesehenes Ereignis: Nico Holonics musste für Marc Oliver Schulze einspringen, der unter Quarantäne steht, wie Oliver Reese dem Publikum erklärte.

Von dieser kurzfristigen Umbesetzung war bei der Vorstellung von „Gott ist nicht schüchtern“ erstaunlich wenig zu spüren. Nico Holonics fügte sich souverän in das vierköpfige Ensemble ein, das gewaltige Textmassen zu absolvieren hatte.

Auf alten Röhrenfernsehern nehmen die Spieler*innen zu Beginn Platz und auch während der restlichen 100 Minuten wird der Text häufig frontal ins Publikum gesprochen. Zwei gegenläufige Kräfte ringen an diesem Abend miteinander:

Zum einen ist an diesem Abend im Berliner Ensemble die „Gorki Power“ spürbar, personifiziert durch zwei Frauen, die das postmigrantische Haus von Shermin Langhoff in den ersten Jahren ihrer Intendanz mitgeprägt haben: Olga Grjasnowa ist die Autorin des Romans „Gott ist nicht schüchtern“, den sie 2017 beim Aufbau Verlag veröffentlichte und aus dem sie nun selbst eine Stückfassung erstellte. Fast noch stärker als in ihren beiden früheren Romanen „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ und „Die juristische Unschärfe einer Ehe„, die beide am Gorki Theater uraufgeführt wurden, wird in diesem Text über das Grauen des syrischen Bürgerkriegs der politische Impetus der Autorin spürbar. Grjasnowa erzählt, wie der Funke des „Arabischen Frühlings“ auf die Jugend in Syrien übersprang, die Proteste jedoch schnell vom Assad-Regime brutal niedergeschlagen wurden und der Konflikt in einen blutigen Bürgerkrieg mündete, der sich durch die Einmischung benachbarter Großmächte zum Flächenbrand auswuchs und Flüchtlingsströme auslöste.

Den Schmerz über das Grauen und die pathetische Anklage der politischen Verhältnisse verkörpert an diesem Abend vor allem die zweite Gorki-Frau, die sich als Newcomerin des Jahres 2014 mit einigen tollen Auftritten in die Berliner Theaterszene katapultierte: Cynthia Micas als Amal, eine Oberschichtstochter, die gegen ihren Vater (Oliver Kraushaar) und das Regime rebelliert, ist das leidenschaftliche Zentrum des Abends und kann endlich wieder ihre Stärken ausspielen, mit denen sie damals z.B. am Gorki in „Das Kohlhaas-Prinzip“ auffiel. In den vergangenen Jahren blieb sie am Residenztheater München und in ihrer ersten BE-Spielzeit oft blass.

Die geballte „Gorki Power“ von Grjasnowa/Micas ist hier jedoch mit einer starken Bremskraft konfrontiert: Roman-Adaptionen haben generell das Problem, dass sich die langen reflexiven und erzählerischen Passagen nur schwer in szenisches Spiel auflösen lassen. Erschwerend kommen nun noch die Corona-Abstands-Regeln ins Spiel.

Die beiden Erzählstränge des Romans über Amal und ihren Freund Youssef (Armin Wahedi) und über den Schönheitschirurgen Hammoudi (Schulze/Holonics), der seit Jahren in Paris lebte und in Damaskus eigentlich nur kurz seinen Pass verlängern wollte, aber in den Strudel des Bürgerkriegs hineingeriet, werden über weite Strecken als szenische Lesung vorgetragen, die immer wieder von kleinen, spielerischen Momenten aufgelockert werden. Eine zentrale Rolle spielt die drehbare Trennwand, auf der Assads Konterfei prangt und von der Kraushaar in den diversen Rollen der austauschbaren Schergen des Regimes seine Kommandos herabbrüllt oder in zynischer Überlegenheit feixt. Dieses Assad-Porträt wird von der rebellischen Generation mit Teufelshörnern verziert, mit weißer Farbe übermalt und schließlich in Stücke gerissen wird.

Immer düsterer werden die Leidensgeschichten der Protagonist*innen, die von Folter und der waghalsigen Flucht mit Schleppern übers Mittelmeer berichten. In Neukölln kreuzen sich die fiktiven Lebenswege. Recht unvermittelt endet das Stück mit dem Tod von Hammoudi, der beim Brand eines Flüchtlingsheims ums Leben kommt.

Tiefschwarz endet der Abend, der mit so zwiespältigen Signalen für den Theater-Herbst begann: Einerseits rüsten sich die Bühnen dafür, den Betrieb schrittweise hochzufahren, andererseits kommen die Einschläge näher. Benachbarte Metropolen wie Paris, Genf, Prag und Wien werden zu Risikogebieten erklärt, erste Schauspieler müssen wegen Quarantäne umbesetzt werden.

Bilder zur Inszenierung: © JR Berliner Ensemble, Bild zur Bestuhlung: Moritz Haase

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