Ganz im Zeichen der Antike steht diese Spielzeit an der Volksbühne. Oft geriet die Auseinandersetzung mit Tragödien und Mythen aus dem reichen Fundus der klassischen Philologie klamaukig, oberflächlich oder nur bemüht komisch. Wohltuend hebt sich davon die neue Arbeit von Alexander Eisenach ab, der gemeinsam mit dem Dramaturgen Frank M. Raddatz (langjähriger Redakteur von „Theater der Zeit“ und einer der Köpfe des „Theater des Anthropozän“-Projekts der Humboldt-Universität) einen interessanten Bogen vom Fluch des Atriden-Hauses zur Klimakrise der Gegenwart schlägt.
Theater und Wissenschaftsvermittlung zusammenzubringen, hat sich das „Theater des Anthropozän“-Projekt auf die Fahne geschrieben: In die Spielhandlung der Profis des Volksbühnen-Ensembles wird dann auch mal ein längerer Monolog von Prof. Antje Boetius, Meeresbiologin und Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts in Bremerhaven, eingebaut, die eindringlich vor den bekannten Krisen-Szenarien der menschengemachten Erderwärmung warnt und sich fragt, warum Wissenschaftler*innen sich heute wie Kassandra fühlen, die folgenlos mahnte. Schon zuvor musste sich der Seher Tireisas (Johanna Bantzer) von den restlichen Figuren Vorwürfe anhören, dass er nicht rechtzeitig und entschieden genug gewarnt habe. Das Orakel von Delphi, das in der Atriden-Saga die Katastrophen vorhersagte und dem die Figuren im Mythos so bedinungslos vertrauten, dass sie ihre Handlungen danach ausrichteten, ist unserer scheinbar so aufgeklärten, industrialisierten Welt fremd.
Einige O-Töne aus der „König Ödipus“-Reclam-Bändchen-Übersetzung des Schweizer Altphilologen Kurt Steinmann sind in diesen knapp zweistündigen Live-Stream aus der Volksbühne eingeflossen. Dieser hohe Tragödien-Ton erinnert von fern an Klaus-Michael Grübers Antiken-Projekte an der Schaubühne der 1970er Jahre. Die Figuren werden jedoch immer wieder ins heute übertragen: Antigone (Vanessa Loibl) und Kreon (Manolo Bertling) streiten hier nicht über das Begräbnis des toten Bruders, sondern um die richtige Antwort auf die Natur- und Umweltkatastrophen: Kreon ist überzeugt, alles im Griff zu haben und plädiert selbstgewiss für ein Weiter-so von Konsum und Industrieproduktion, während Antigone nachhaltigere Strategien einfordert und von ihm zum Schweigen gebracht wird.
Zu pathetisch-dräuender Live-Musik von Niklas Kraft und Sven Michelson versucht „Anthropos, Tyrann (Ödipus)“, antike Tragödie und moderne Lecture Performance, Mythos, Wissenschaft und Gegenwarts-Krise zusammenzubringen. Nicht immer gelingt dieser spielerische Spagat, aber die Ernsthaftigkeit, mit dem Volksbühne und „Theater des Anthropzän“ diesen Versuch gemeinsam angehen, ist anerkennenswert. Überraschend ist diese Ernsthaftigkeit gerade bei Alexander Eisenach, der in der vergangenen Spielzeit am Berliner Ensemble mit „Stunde der Hochstapler“ noch eine der belanglosesten, albernsten Arbeiten ablieferte.
Interessant macht den Stream auch der technische Rahmen: die Spieler*innen agieren auf der Bühne von Daniel Wollenzin vor der Live-Kamera von Oliver Rossol, das Publikum ist zuhause vor dem Rechner eingeladen, die Perspektiven zu wechseln und in einem 360 Grad-Youtube-Video zu scrollen. Am besten wirkt dieser Effekt sicher mit einer VR-Brille, die jedoch nicht unbedingt nötig ist, um diesen Abend zu sehen.
Bild: Thomas Aurin