Graf Öderland

Zwei tragende Säulen hat diese düstere Moritat, die Kölns Intendant Stefan Bachmann als Koproduktion von Theater Basel und Residenztheater München im Februar 2020 realisierte:

Zum einen Thiemo Strutzenberger in der Titelrolle des vermeintlich biederen Staatswanwalts, der sich in einen faschistoiden Axtmörder-Amoklauf und Führer einer neurechten Erweckungsbewegung hineinträumt. Blutverschmiert und schweißtriefend erwacht Strutzenberger am Ende der knapp anderthalb Stunden aus seinem Albtraumtrip. Für diese Leistung wurde er beim digitalen Theatertreffen 2021 mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet.

Die zweite Säule des Abends ist das Trichter-Ungetüm: ein unverkennbares Bühnenbild von Olaf Altmann, allerdings nicht ganz so wuchtig wie seine beiden besten Zusammenarbeiten mit Michael Thalheimer, der gewaltige Quader, von dem Constanze Becker als „Medea“ in Frankfurt auf die Winzlinge herabblickte, und die Bühnenschräge in „Endstation Sehnsucht“, auf der Cordelia Wege und Andreas Döhler am Berliner Ensemble eingezwängt waren. Wie das Kaninchen-Loch in „Alice im Wunderland“ saugt der schwarze Schlund die Figuren auf, lässt sie taumeln und zu Boden plumpsen, begleitet von der Live-Musik des Quartetts um Sven Kaiser, die meist geheimnisvoll wabert, im entscheidenden Moment aber auch im brachialen Rammstein-Stil dröhnt und röhrt. Für dieses Überwältigungstheater ist der Stream natürlich nur eine Notlösung. „Graf Öderland“ ist eine von nur zwei Arbeiten aus der 10er-Auswahl des Theatertreffens 2021, die noch vor der Zeit von Lockdowns, Inzidenzwerten und Abstandsregeln Premiere feierte.

v.l. Barbara Horvath, Julius Schröder, Linda Blümchen, Thiemo Strutzenberger, Simon Zagermann, Mario Fuchs in Olaf Altmanns Bühnentrichter

Die Schauer-Geschichte in zwölf Bildern, die Max Frisch in den 1950er Jahren schrieb, wird heute nur noch selten gespielt. Zuletzt gelang Volker Lösch im Herbst 2015 am Staatsschauspiel Dresden eine aufsehenerregnde Parabel auf den Aufstieg von Pegida und die völkischen Erlösungsphantasien, die sich damals in der sächsischen Landeshauptstadt Bahn brachen. Seltsam, dass dieser mutige und kluge Zugriff auf den fast vergessenen Stoff damals bei der Auswahl für das Theatertreffen übergangen wurde. Ähnlich überraschend ist es, dass stattdessen nun Stefan Bachmanns „Graf Öderland“-Inszenierung zum Theatertreffen eingeladen wurde. Dieser Abend ist sicherlich eine sehenswerte Stadttheater-Inszenierung für das Repertoire, aber ihr fehlt das Besondere, das eine Einladung zum Festival der zehn bemerkenswertesten Inszenierungen rechtfertigen würde.

Bilder: Birgit Hupfeld

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