Ein sehr stiller, leiser Abend ist die überlange Roman-Adaption des Dostojewski-Wälzers „Der Idiot“, die Bochums Schauspiel-Intendant und Altmeister Johan Simons für das Thalia Theater Hamburg inszenierte.
Kahl ist die Bühne: nur ein Wald von Glühlampen baumelt von der Decke. Rein funktional ist dieses Setting, jeder Anspruch an Sinnlichkeit oder Ästhetik wird bewusst unterlaufen. Schon dieses nicht vorhandende Dekors signalisiert: dieser Abend ist mehr protestantische Text-Arbeit und Anstrengung als sinnlicher Genuss.
Im Zentrum stehen die Figuren und ihr sich mehr als vier Stunden entfaltendes, recht unübersichtliches Beziehungsgeflecht. Wie aus früheren Abenden von Jürgen Gosch und Johann Simons gewohnt, bleibt auch diesmal das komplette Ensemble die gesamte Zeit über am Rand der Schütz-Bühne präsent. Ein Markenzeichen dieser Arbeiten mit hohem Wiedererkennungswert, das aber im Lauf der Jahre und Jahrzehnte zum manierierten Selbstzitat zu werden droht.
Primus inter pares ist natürlich Jens Harzer, Iffland-Ring-Preisträger und langjähriger Simons-Weggefährte, der perfekt zu dessen konservativem Literatur-Erzähltheater passt. Er gibt die Titelfigur, eine typische Harzer-Rolle, wie man sie oft von ihm gesehen hat: wesentlich zurückgenommener und leiser als sein Horst Schlämmer-Auftritt in „Der Geizige“, den er sich und dem Publikum am Thalia zuletzt gönnte.
Fiebriger und zappeliger als Harzer agiert Ole Lagerpusch, der als Ippolit Terentjes auch eine Paraderolle hat, die ihm auf den schlaksigen Leib geschrieben scheint. Harzer spielt also Harzer, Lagerpusch spielt wieder mal Lagerpusch, drum herum gruppiert sich das Ensemble. Sanft und elegisch plätschert das klassische Literatur-Theater vor sich hin. Dem Sitznachbarn fallen schon vor der Pause mehrfach die Augen zu, immer wieder schreckt er kurz hoch, wenn die Live-Musik-Begleitung (Per Rundberg, Olena Kushpler) dringlicher und dissonanter wird.
Der Abend gleitet in erwartbaren Bahnen vor sich hin und unterscheidet sich fundamental von Sebastian Hartmanns „Idiot“-Adaption, die vor wenigen Wochen zwei Bahn-Stunden weiter südöstlich am Deutschen Theater Berlin Premiere hatte. Die beiden Inszenierungen der prominenten Regisseure stehen für sehr unterschiedliche Handschriften: hier das Hochamt, das sich viele Pausen gönnt und tastend an den Text annähert, dort das Zertrümmern, das mit schwerem Gerät Schneisen durch das Text-Bollwerk zu schlagen versucht, assoziativ, überfordernd, grell und laut. Gemeinsam ist beiden Abenden, dass sie sich in den Slapstick retten, wenn sie nicht mehr weiter zu wissen zu scheinen, wie sie den Dostojewski in den Griff bekommen sollen.
In Erinnerung bleibt von diesem stillen Abend aber auch das Husten-Konzert, mit dem das Hamburger Publikum seinen Aerosolen freien Lauf ließ und die Vorführung auf der Bühne untermalte. Penibel wurde draußen darauf geachtet, dass das geimpfte oder genesene Publikum durch x verschiedene Türen zu den Plätzen gelangte, drinnen folgte nur geschätzt die Hälfte des Auditoriums der Empfehlung, eine Maske zu tragen. Munter wurde gehustet und gerotzt. Mit solcher Unvernunft des Publikums und einem solchen Hygienekonzept laufen die Theater sehenden Auges ins offene Messer des nächsten Lockdowns, der von Österreich bis Sachsen schon Realität ist.
Bilder: Armin Smailovic