Ein Mann seiner Klasse

Mit den Werken der französischen Soziologen Didier Eribon und Édouard Louis wurde Christian Barons Roman „Ein Mann seiner Klasse“ verglichen, als er Anfang 2020 erschien.

Wie die französischen Star-Intellektuellen blickt auch Baron, bis 2018 Redakteur im Feuilleton des Neuen Deutschlands, anschließend Politik-Redakteur beim Freitag, auf seine Herkunft aus sehr prekären Verhältnissen und das schwierige Verhältnis zu seinem Vater. Baron wuchs in den 1990er Jahren in Kaiserslautern in der strukturschwachen Südpfalz auf. Eindringlich beschreibt er die Brutalität des alkoholkranken Vaters, der die Mutter schlägt und sich mit Hilfsarbeiterjobs über Wasser hält. Nach seiner Kündigung muss sich die sechsköpfige Familie mit Sozialhilfe über Wasser halten. Christian Baron beschreibt, wie die vier Geschwister vor Hunger wimmern und sich der Schimmel an den Wänden bildet.

Der Vater ist während der knapp 100 Minuten im Hannoveraner Ballhof Zwei als stumme Bedrohung präsent. Michael „Minna“ Sebastian, ein stark tätowierter, gelernter Zimmermann verkörpert ihn und ist unermüdlich damit beschäftigt, am Bühnenbild von Katja Haß herumzuwerkeln. Aus dem Off kommen die Schimpftiraden von Jan Thümer, wenn der Vater mal wieder zu viel getrunken hat.

Szene mit: Nikolai Gemel, Michael „Minna“ Sebastian

Stella Hilb, die in den Inszenierungen von Nora Abdel Maksud die aufgekratzte Komikerin gibt, tritt in Lukas Holzhausens Roman-Adaption in der Doppelrolle der zu früh an Krebs gestorbenen Mutter und der patenten Tante auf, die die Kinder nach dem Tod ihrer Schwester zu sich nimmt. Christian bekommt bei ihr zwar mehr Empathie und Herzlichkeit als bei dem brutalen Vater oder gar dem berüchtigten Opa Horst, den alle nur „Freddie Krüger“ nennen, aber die Welt der Kultur und der intellektuellen Anregungen lernt er erst bei einer zwanzig Jahre älteren Tante kennen, die aus dem Prekariat in das Bildungsbürgertum einheiratete, als Sekretärin arbeitet, ihn in die Oper mitnimmt und ihn in seinem Wunsch bestärkt, Journalist zu werden. Sein Vater schüttelte immer nur den Kopf, wie er nur auf den Gedanken kommen könne, seinen Lebensunterhalt als „Wörteraneinanderreiher“ zu verdienen.

Der Abend wird vor allem aus der Sicht der Hauptfigur Christian erzählt, die Nikolai Gemel verkörpert. In einem Mix aus erklärenden, ins Publikum gesprochenen Passagen und Szenen mit Mutter/Tante und Bruder Benny (im Wechsel von zwei Kinderdarstellern gespielt) führt er durch den Abend und die Erinnerung an eine sehr prekäre Kindheit.

2003, als Baron gerade Abitur machte, erste Artikel über die Basketball-Oberliga in der Rheinpfalz veröffentlichte und sich bei den Jusos engagierte, wurde das Leben der Prekariatsschicht, aus der er stammt, durch die Agenda 2010 der rot-grünen Bundesregierung noch härter. Die Inszenierung positioniert sich in einem eingespielten Monolog kurz vor Schluss klar gegen die Einführung von Hartz IV, der strengen Sanktionen, des Niedriglohnsektors und der Leiharbeit: Themen, bei denen auch die beiden Zeitungen Neues Deutschland und Freitag, für die Baron schreibt, immer sehr klar Position bezogen.

Lukas Holzhausen, der 2019 vom Volkstheater Wien ins Ensemble des Schauspiels Hannover wechselte und seit Jahren auch immer wieder Regie führt, gelang mit „Ein Mann seiner Klasse“ eine schlüssige Inszenierung, die relevante Themen bearbeitet und an der es handwerklich und dramaturgisch nichts auszusetzen gibt. Die Romanadaption ist eine überzeugende Arbeit für das Repertoire des Schauspiels Hannover, läuft an diesem mittelgroßen Haus aber nur auf der kleinsten Bühne im Ballhof Zwei.

Die Einladung zum Theatertreffen war die größte Überraschung in der 10er-Auswahl für den Mai 2022. In sich ist die Arbeit rund, was nach der schwachen Theatertreffen-Eröffnung mit „Das neue Leben“ tatsächlich ein Grund zum Aufatmen ist, und durchaus sehenswert, aber erfüllt sie auch das zentrale Kriterium, besonders „bemerkenswert“ zu sein? Ästhetisch ist „Ein Mann seiner Klasse“ über weite Strecken eine frontal ins Publikum erzählte Roman-Adaption, die nichts falsch macht, aber auch keine neuen Wege ausprobiert oder auf andere Art herausragt.

Bilder: Katrin Ribbe

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