humanistää!

Stumm sitzen sich die beiden gegenüber, ein altes Künstler-Ehepaar schweigt sich hinter Susanne Kennedy-artigen Masken an und lässt passiv-aggressiv die Messer über die Teller knirschen. Aus dem Off geben ihnen die Ensemble-Kolleg*innen schließlich doch eine Stimme. Sie wird mit schwarzer Langhaar-Perücke als Friederike Mayröcker, er mit ausstaffiertem Wohlstandsbauch und graumäusiger Kleidung als Ernst Jandl: zwei Sprach-Virtuosen, die sich im Ehe-Alltag wenig zu sagen haben und in tastenden Konjunktiv-Konstruktionen mehr aneinander vorbeireden als wirklich miteinander zu kommunizieren.

So beginnt die zweistündige Revue „humanistää!“ mit einer stillen Szene, die in ihrer ästhetischen Avanciertheit stark an jüngere, konsequent wortlose Arbeiten von Rieke Süßkow erinnert. Fast allen Nummern dieser Revue ist jedoch eines gemein: früher oder später landen sie in der Eskalationsspirale. Die Beziehungstristesse des Paares mündet in eine wilde Choreographie. Diese plötzlichen Gefühlausbrüche kehren als Leitmotiv im Verlauf des Abends regelmäßig wieder.

Regisseurin Claudia Bauer und Dramaturg Matthias Seier kompilierten für ihre „humanistää!“-Revue diverse Jandl-Texte, vor allem „Aus der Fremde“, das 1980 mit dem Mülheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet wurde und die komplizierte Beziehung der beiden Künstler-Seelen thematisiert. Aus diesem Stück stammt die Anfangsszene, als roter Faden schimmert es auch später immer wieder durch, wobei das komplette Ensemble im steten Rollenwechsel in die Kostüme von Jandl, Mayröcker oder den Off-Sprecher*innen schlüpft.

Als Intermezzi erleben wir neben dem „Humanisten“-Einakter, in dem Julia Franz Richter und Elias Eilinghoff als (auch körperlich) aufgeblasene Nobelpreisträger prahlen, viele weitere kurze Jandl-Texte, untermalt vom dreiköpfigen Orchester aus dem Graben. Besonders schön ist der „Calypso“-Tanz zum Refrain: „ich was not yet / in brasilien / nach brasilien / wulld ich laik du go“. In dieser Zeile wird deutlich, was Claudia Bauer und ihr Ensemble an diesem Abend bieten: höheren, sprachverliebten Blödsinn mit wunderbar choreographierten Verrenkungen.

Zu loben ist vor allem die Präzision, mit der dieses hervorragende Ensemble unterhält, das sich vor allem aus Spieler*innen zusammensetzt, die mit Kay Voges aus Dortmund kamen oder aus München (von den drei wichtigsten Theatern der Stadt oder frisch von der dortigen Schauspielschule) nach Österreich zogen bzw. zurückkehrten. Ein kleiner Wermutstropfen an diesem vom Wiener Publikum bejubelten und ansonsten so gut getimten Abend ist nur, dass er eine halbe Stunde zu lang ist.

Hier unterschied sich Claudia Bauers „humanistää!“ auch von ihrem ästhetischen Vorbild: in ihrer Lust an Körperkomik und Sprachakrobatik tritt diese Inszenierung deutlich in die Fußstapfen von Herbert Fritsch, der mit seinen Volksbühnen-Dada-Experimenten „murmel murmel murmel“, „der die mann“ oder „Pfusch“ jahrelang ein Theatertreffen-Abo hatte, dem turbulenten Wahnsinn stets nach 90, maximal 100 Minuten ein Ende setzte, nun aber etwas aus der Mode gekommen ist. In diese Lücke springt Bauer beherzt hinein, auch sie fast schon ein Stammgast des Theatertreffens. Die feinziselierte Sprachakrobatik und Körperkomik kannte man bisher von ihr nicht, ihre Arbeiten waren meist aus deutlich gröberem Holz geschnitzt, allen voran ihre platte Tartüffe-Verulkung aus Basel im 2019er Jahrgang des Theatertreffens.

Bemerkenswert an diesem Abend ist also nicht, dass er dem Theaterpublikum neue Ästhetiken und Perspektiven bieten würde. Vielmehr handelt es sich um eine bewährte Ästhetik, die hier virtuos auf die österreichischen Sprachspieler*innen Jandl/Mayröcker adaptiert wurde. Ebenfalls handelt es sich um einen bereits etablierten Slot im tt-Tableau, den statt Altmeister Fritsch diesmal eine bekannte, nur auf dieser, „seiner“ Stamm-Position ungewohnten Regisseurin besetzt. Auch in Berlin beim Theatertreffen fand dieser handwerklich sehr gut gemachte, „famose Quatsch“ (Theresa Luise Grindlstraßer auf Nachtkritik) seine Fans, Samouil Stoyanov wurde von der Jurorin Valery Tcheplanowa mit dem Alfred Kerr-Preis ausgezeichnet.

Vor allem ist an dieser Einladung bemerkenswert, dass das Volkstheater Wien, das traditionell im Schatten des Burgtheaters, des übergroßen Nachbarn an der Ringstraße, steht, erstmals seit 1970, also vor 52 Jahren, wieder zum Berliner Theatertreffen eingeladen ist. Überraschend glückte dem neuen Intendanten Kay Voges auch gleich ein Doppelschlag: denn die neue Rimini Protokoll-Produktion „All right, good night“, die im Dezember 2021 im Kreuzberger HAU uraufgeführt wurde, ist eine Koproduktion seines Hauses und feiert in dieser Woche seine Wien-Premiere.

Im August 2022 war „humanistää!“ auch der große Abräumer bei der Wahl des Fachmagazins Theater heute: der Abend wurde als beste Inszenierung sowie für die beste Regie, die besten Kostüme und das beste Bühnenbild ausgezeichnet, Samouil Stoyanov darf sich über die Wahl zum Schauspieler des Jahres freuen. Der Preisregen setzte sich auch im November 2022 bei der Nestroy-Gala in Wien fort: hier gab es weitere Preise für die beste Regie, für Samouil Stoyanov als besten Schauspieler und für die beste Inszenierung im deutschen Sprachraum.

Bild mit Bettina Lieder als Friederike Mayröcker und Samouil Stoyanov als Ernst Jandl: © Nikolaus Ostermann / Volkstheater

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