Minna von Barnhelm

In den vergangenen Jahren hat sich Anne Lenk mit ihren Klassiker-Inszenierungen einen Namen gemacht: „Der Menschenfeind“ und Maria Stuart“ wurden zum Theatertreffen eingeladen, auch „Der zerbrochne Krug“ schaffte es immerhin auf die Longlist.

„Das finde ich immer so spannend: zu merken, dass wir eigentlich überhaupt nicht vorangekommen sind. Mich interessiert an diesen alten Stücken daher meist weniger die Frage, was daran heutig ist, sondern was wir eigentümlich versäumt haben“, sagt die Regisseurin im Programmheft-Interview ihrer neuen Inszenierung. Mit Lessings „Minna von Barnhelm“, die 1767 in Hamburg uraufgeführt wurde, hat sie sich diesmal ein besonders angestaubtes Stück ausgesucht, an das sich aus guten Gründen schon länger keine große Bühne mehr gewagt hat.

Mit der Titelfigur (gespielt von Natali Seelig) gibt es zwar eine überraschend moderne Figur, aber ihr Verlobter und Gegenpol, der Major von Tellheim (DT-Ensemble-Neu-Mitglied Max Simonischek), hängt einem Ehr-Begriff an, der defintiv überholt ist. Diesen Kern des Stücks, der die gesamte Handlung vorantreibt, versuchten Lenk und ihr Dramaturg David Heiligers in ihrer Fassung einfach zur Seite zu schieben: „Er ist bei uns sehr stark in den Hintergrund gerückt (….) Wir wollten uns nicht damit beschäftigen, was Ehre bedeutet (…)“, erklärt die Regisseurin im bereits erwähnten Interview.

Damit tut sich im Zentrum des Abends eine Leerstelle auf. Aber was Lenk und ihr Team stattdessen erzählen wollen, wird nicht klar. Kapitalismus und Krieg geistern als Buzzwords durch das Programmheft, doch zu beiden hochaktuellen Themen haben weder das Interview noch der Theaterabend viel zu sagen. Im verzweifelten Ringen, den Lessing-Klassiker in den Griff zu kriegen, flüchten sich Lenk und ihre Kostümbildnerin Sibylle Wallum in eines der abgedroschnensten Theatermittel, das selten funktioniert: aus ihren Figuren werden überzeichnete Figuren. Die Männer sind entweder fahle, zombiehafte, abgerissene Gestalten (wie Simonischek als Tellheim) oder Knallchargen (wie Jeremy Mockridge, der als Paul Werner wie im „Sturm“ erneut als Lachnummer verheizt wird), die Frauen sind in bonbonbunten Kleidern voller Rüschen und Pölsterchen ähnlich lächerlich zurecht gemacht und ebenfalls oft unterfordert (z.B. Lorena Handschin als Wirtin). Hervorzuheben ist, dass Seyneb Saleh, die zuletzt in Hannover engagiert war und dort bereits in Lenks „Iphigenie“ spielte, für die Corona-erkrankte Lenk-Stammkraft Franziska Machens als Kammermädchen Franziska so souverän einsprang, dass man ihr die kurze Probenzeit gar nicht anmerkte.

Gefühlt dauert der Abend viel länger als die realen zwei Stunden. Das liegt vor allem daran, dass er nie einen richtigen Rhythmus findet. Der exzessive Einsatz von Schwarzblenden und ein paar eingestreute Rap-Einlagen von Fatoni, die Ex-Ensemble-Mitglied Camill Jammal vertont hat, wirken wie Fremdkörper in den mäandernden fünf Aufzügen, die sich bis auf Modernismen und Kalauer nah an Lessings Vorlage halten.

So hoch war das Durchschnittsalter lange nicht bei einer Berliner Premiere, der Applaus war freundlich, die Frage, was Lenk und das DT an der „Minna von Barnhelm“ interessierte, bleibt offen. Nach mehreren tt-Einladungen in Folge und zuletzt immerhin noch einer Shortlist-Nominierung schaffte es diese Lenk-Inszenierung zurecht nicht mal mehr in die engere Jury-Diskussion für die 10er-Auswahl des Theatertreffens 2023.

Bild: Arno Declair

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