Dass Alice Diop vom Dokumentarfilm (z.B. „Nous“, Berlinale Encounters 2021) kommt, ist ihrem Spielfilm-Debüt „Saint Omer“ sehr deutlich anzumerken. 90 % dieser zwei Stunden sind eine sehr präzise Beobachtung eines Gerichtsprozesses mit langen Statements, Gegenreden und vielen Großaufnahmen konzentrierter oder fragender Gesichter.

Vergeblich bemüht sich die Richterin (Valérie Dréville) um die Aufarbeitung einer schrecklichen Tat. Warum hat Laurence Coly (Guslagie Malanda) ihr 15 Monate altes Kind in der Flut des Atlantiks ertränkt? Wie lässt sich dieses Verbrechen erklären und was kann die angemessene Strafe dafür sein?

Dass sie die Tat begangen hat, ist unstrittig: sie gesteht und Überwachungskameras von Anreise mit und Abreise ohne Baby liefern klare Indizien zu ihren Lasten. Völlig unklar bleibt aber, was sie dazu trieb. Mit empathischen Nachfragen versucht die Richterin Licht ins Dunkel zu bringen. Verteidigung und Anklage fahren ihre üblichen Strategien. Doch verstrickt sich Lauence vor allem selbst in Widersprüche. Klar ist, sie stammt aus dem Senegal, fühlte sich selbst von ihrer Mutter ungeliebt und konnte in der von Kolonialismus und Rassismus geprägten Mehrheitsgesellschaft schwer Fuß fassen. Schwierige Lebensumstände, jedoch kein Grund, ein Kind zu töten…

Den Schleier des Nichtwissens webt Diop aus zwei Motiv-Komplexen, die die Verhandlung dominieren: Glaubt Laurence wirklich, dass ein Fluch auf ihrer liegt und sie zum Kindsmord zwang? Oder ist das nur ein Versuch, sich als unzurechnungsfähig und somit nicht schuldfähig darzustellen, um harten Strafen zu entgehen? Der angebliche Fluch des Marabouts gibt Diop auch Gelegenheit, rassistische Konnotationen in der Argumentation der Prozessbeteiligten einfließen zu lassen, ebenso wie bei einer Nachfrage, wie Laurence ausgerechnet den Sprachphilosophen Wittgenstein als Forschungsthema ausgewählt habe. Noch unklarer wird die Lage durch das Auftreten eines Zeugen: ihr wesentlich älterer, weißer Liebhaber Luc Dumontet (Xavier Maly) habe sie nie unterstützt und das Kind abgelehnt, ganz anders stellt dieser die Verhältnisse dar.

Wie schwierig Taten aufzuklären sind und wie unbefriedigend es ist, wenn Motive schwerer Verbrechen unergründlich bleiben, ist ein Thema, das fast jeden Strafprozess begleitet. In der Debatte um den NSU-Prozess und die Enttäuschung der Angehörigen der Mordopfer wurde dies besonders deutlich. Jenseits seiner handwerklichen Präzision hat „Saint Omer“ zu dieser rechtsphilosophischen und rechtstaats-praktischen Diskussion wenig Neues hinzuzufügen.

Diop propft ihrem Drama noch einen zweiten Strang auf. Die Kamera zoomt immer wieder auf die Professorin Rama (Kayije Kagame), die auf den spektakulären Prozess in der nordfranzösischen Kleinstadt aufmerksam wurde und ihn im Publikum beobachtet. Sie ist selbst schwarz und schwanger, außerdem arbeitet sie an einem Buch über den Mythos der Medea, der berühmtesten Kindmörderin.  Das Drehbuch, das Diop mit der preisgekrönten Schriftstellerin Marie NDiaye schrieb, gewinnt durch diesen zusätzlichen Erzählstrang wenig: „Es fragt sich, ob das Spiel der Projektion und Identifikation nicht auch ohne diese romanhafte Überfrachtung funktioniert hätte“, konstatierte Nikolaus Perneczky in seiner Perlentaucher-Kritik.

Am Mittwoch lief „Saint Omer“ erstmals in Berlin: zum Abschluss der Französischen Filmwoche und als Höhepunkt der Diop-Werkschau, die das Kino Arsenal kuratierte. Die Regisseurin konnte anders als geplant nicht anwesend sein, da sie Oscar-Verpflichtungen hat. Nach dem Preisregen von Venedig (Silberner Löwe/Großer Preis der Jury und Auszeichnungen für das beste Drehbuch) sowie weiteren Preisen auf diversen kleineren Festivals (Chicago, Genf, Gent) wurde „Saint Omer“ von Frankreich für das Rennen um den besten nicht-englischsprachigen Film nominiert. Beim Europäischen Filmpreis war Diop zwar in der Kategorie „Beste Regie“ nominiert, ging aber leer aus. Schon in den kommenden Tagen kann man „Saint Omer“ auch beim Festival „Around the World in 14 films“ in der Berliner Kulturbrauerei sehen, Hauptdarstellerin Guslagie Malanda ist als Gast angekündigt. Im Frühjahr 2023 soll der Film dann auch in den Programmkinos starten.

Bild: © Srab Films – ARTE France Cinema 2022

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