Dass der Eröffnungs-Abend noch so abheben würde, war zwar zu hoffen, aber nicht garantiert. Mit hängenden Mundwinkeln und im betont legeren Shirt stand Festival-Kurator Matthias Lilienthal neben seinem Namensvetter und Festspiel-Intendant Matthias Pees. Kurz und knapp hielten sie die Eröffnungsworte am späten Abend um 22.30 Uhr.
Das Publikum hatte da schon zwei Gastspiele hinter sich: von protestantischer Kargheit war „Hartaqāt (Häresien)“ des libanesischen Duos Lina Majdalanie / Rabih Mroué im HAU 2, wie Augenzeugen berichteten. Ich stieg mit „Blind Runner“ des Iraners Amir Reza Koohestani und seiner Mehr Theatre Group auf der Hinterbühne des Hauses der Berliner Festspiele in das „Performing Exiles“-Geschehen ein. Koohestani ist auf Berliner, Hamburger und Münchner Bühnen kein Unbekannter mehr, arbeitet regelmäßig mit den Ensembles großer Häuser zusammen, tourt aber auch wie hier mit seiner exil-iranischen Compagnie über die Festivals.
„Blind Runner“ von Amir Reza Koohestani wurde vor wenigen Wochen beim Kunstenfestivaldesarts in Brüssel uraufgeführt, weitere koproduzierende Stationen werden z.B. das Athens Epidaurus Festival und Festival d’Automne à Paris. In nur einer Stunde bleibt das Geschehen auf der Bühne karg. Eine Frau und ein Mann (Ainaz Azarhoush, Mohammad Reza Hosseinzadeh) rennen nach anfänglichen Lockerungsübungen quer über die Bühne, versuchen, miteinander zu sprechen, oft bleibt ihnen aber nach Kontaktabbruch nur, zu sich selbst und zum Publikum zu sprechen. Ein Gefängnis ist das Setting von „Blind Runner“, soviel wird klar. Im Hintergrund sieht man die beiden noch einmal in Porträt-Großaufnahmen auf der Videowand.
Bild: Camille Blake
Die Hintergründe erklären sich aus dem Programmheft: gemeinsam wollte das Paar vor der Repression aus ihrer iranischen Heimat nach Europa fliehen. Mit dem exzessiven Lauftraining wollen sie sich darauf vorbereiten, durch den Eurotunnel zu joggen, bevor der nächste Zug kommt. Die Frau wurde verhaftet, das Training geht trotzdem weiter: sie joggt hinter der Gefängnismauer, eher davor.
Vieles tippt der kurze Abend an: persische Lyrik, Kritik an der Abschottung Europas und vor allem natürlich an der Repression des Mullah-Regimes. Doch an diesem ebenso kargen wie voraussetzungsreichen Abend überträgt sich davon weniger.
Aber dann kam ja noch Serhij Zhadan mit seiner Ska-Punk-Band „Zhadan i Sobakhy“ aus Charkiw. Dieser Mann ist ein Phänomen: er brilliert gleichermaßen als Diskutant in Akademiegesprächen, Essayist und mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichneter Romancier wie als Frontmann seiner Band.
Seiner sehr jungen, häufig mit blau-gelben Flaggen umhüllten Fangemeinde heizte er mit seiner Bühnen-Show ein. Bis Mitternacht blieb der große Saal des Festspielhauses gut gefüllt. Leerer war es drei Tage später beim Konzert der ukrainisch-deutschen Band Vesna. Die Sängerin Mariana Sadovska stimmte Klagegesänge an, die oft von traditionellen, archaischen Motiven inspiriert waren, und ging in ihren Zwischenmoderationen mehrfach auf die verzweifelte Lage befreundeter Künstlerinnen und Künstler ein, die an der Front kämpfen. Eine von ihnen musste deshalb die geplante Teilnahme an dem Festival-Konzert an. Begleitet von Spendenaufrufen und Hilfsappellen konfrontierte Sadovska das Publikum auch mit den üblichen Parolen, die wir seit anderhalb Jahren hören. Der ARD-Presseclub vom selben Tag arbeitete sehr gut heraus, dass der Krieg in eine zähe Abnutzungsschlacht übergegangen ist und die finanzielle/logistische Unterstützung der Ukraine aus den USA zu schwinden droht. In dieser veränderten Lage wirkt die verzweifelte Wiederholung bekannter Textbausteine und Parolen unterkomplex.
Am Eröffnungswochenende gab es auf der Seitenbühne des Festspielhauses auch die Uraufführung „Ancestral Visions of the Future/Pageantry of Wailing“ von Lemohang Jeremiah Mosese, einem Filmemacher aus Lesotho, der seit Jahren in Kreuzberg lebt. Zu Beginn macht er die kurze Ansage, dass sein erstes Theaterstück ein sehr persönliches Zwiegespräch mit seiner Mutter ist. Begleitet vom afroamerikanischen Spiritual „Sometimes I feel like a motherless child“, einer verfremdeten Version der deutschen Nationalhymne und eingespielten Filmaufnahmen aus Südafrika bietet das überwiegend weibliche Ensembles neun Miniaturen, die assoziativ um das Verhältnis des Regisseurs zu seiner Mutter und den beiden Kontinenten, auf denen er lebt. Die Anspielungen bleiben hermetisch, die in Kooperation mit dem FFT Düsseldorf wirkt über weite Strecken wie aus dem Baukasten des Off-Theaters.
Sehr minimalistisch ist auch das Solo „idiota“ der kapverdischen Choreographin Marlene Monteiro Freitas auf der Seitenbühne. Stilistisch ist diese 75 Minuten kurze Fingerübung ganz anders als ihre exzessiv-mitreißenden Spektakel mit großem Ensemble, die in Berlin bereits am HAU zu erleben waren und für den „Tanz im August“-Abschluss in der Volksbühne angekündigt sind.
Bild: Bea Borgers
Die Performerin steht in einer Glas-Vitrine und hantiert pantomimisch mit weit aufgerissenen Augen und diversen Utensilien. Von Klassik- und Popklängen sowie Hundegebell aus dem Off begleitet spielt sie auf der Klaviatur der Gefühle von Schmerz und Entsetzen bis Freude. Alles wird nur kurz angerissen, plätschert ohne dramaturgischen Bogen vor sich hin, der „Büchse der Pandora“-Mythos, auf den sie laut Website-Info anspielt, ist als Hintergrundfolie nicht erkennbar. Wie bei Koohestanis „Blind Runner“ handelt es sich auch bei „idiota“ um eine typische Festival-Tour-Produktion, die bereits vor einem Jahr beim Kunstenfestivaldesarts in Brüssel und den Wiener Festwochen lief.
Dort wurde vor einem Jahr auch „Depois de silêncio/Nach der Stille“ von Christine Jahathy uraufgeführt, das zum Abschluss von „Performing Exiles“ auf der Hinterbühne des Hauses der Berliner Festspiele lief. Sehr karg ist die Bühne ausgestattet, vier Spieler*innen nehmen an zwei Tischen Platz und beginnen mit Dokumentartheater der trockensten Sorte. Ausführlich geht es um Sklaverei in Brasilien, die Unterdrückung von Minderheiten und die gewaltige Schere zwischen Arm und Reich. Während der Präsidentschaft von Jair Bolsonaro, der vor wenigen Monaten endlich abgewählt wurde, wie eine Spielerin seufzt, haben sich diese Probleme weiter verschärft.
In eingespielten Dokumentaraufnahmen aus der Region Bahia und in den Statements auf der Bühne geht es um Widerstand und Wut der Aktivist*innen, um brutale Übergriffe und Morde. Stilprinzip dieses semidokumentarischen Abends ist, dass reale Vorfälle mit der Adaption eines Romans „Torto Arado“ (dt.: „Die Stimme meiner Schwester“) von Itamar Vieira Júnior vermischt werden. Die minimalistische Spielhandlung reagiert auf Video-Einblendungen, die Erzähl- und Handlungsstränge verwirren sich miteinander. Motive des magischen Realismus und die herausgeschnittene Zunge der Schwester aus dem Roman werden dominanter.
Bild: Camille Blake
Welche Figuren real und welche fiktiv sind, ist kaum noch auszumachen. Jahathy geht es vor allem darum, ihre These von der Kontinuität der Gewalt zu unterstreichen. So unstrittig wie dieser Befund ist, so diskussionswürdig sind jedoch ihre Mittel. Ich muss mich den negativen Bewertungen aus der Nachtkritik-Kritikenrundschau nach der Premiere anschließen: das spröde Dokumentartheater, das so lange dominiert, wirkt zäh, wie Margarete Affenzeller im „Standard“ fand, die Trance, in die sich eine Performerin in einem spirituellen Akt hineintanzt, wirkt als Kontrast um so aufgesetzter. Dass der Abend hier unangenehm Richtung „Ethno-Voyeurismus“ schlittert, wie Petra Paterno in der Wiener Zeitung kritisierte, sehe ich auch so.
Nach der Performance war es eine ziemliche Herausforderung, sich durch das Abschluss-Konzertpublikum zu Wein und Reis an die einzige Bar durchzutanken, die leider auch nur Bargeld akzeptierte. Damit schloss sich ein Kreis nach zehn Festival-Tagen, denn schon am Eröffnungsabend gab es viele fragende Blicke, an welchen versteckten Orten man hier etwas zu essen und zu trinken bekommen könnte.
Vorschaubild: Camille Blake