Barocco

In einem assoziativ-überbordenden Stilmix feiert Kirill Serebrennikow in „Barocco“ die Freiheit. Die Urfassung dieses „musikalischen Manifests“, wie der Untertitel lautet, realisierte der Regisseur noch aus dem Hausarrest 2018 am Moskauer Gogol Center. Mehrfach mussten anvisierte Gastspiel-Termine am Hamburger Thalia Theater pandemiebedingt verschoben werden. Seitdem hat sich die Lage  dramatisch verändert: nach der zweiten Welle des Angriffskriegs auf die Ukraine wurde das Klima noch repressiver, das Gogol Center ist mittlerweile geschlossen, Serebrennikov lebt im Exil in Berlin und Hamburg, wo er nun nach „Der schwarze Mönch“ und „Der Wij“ bereits seine dritte Inszenierung auf die Bühne bringt, eine überarbeitete und ergänzte „Barocco“-Fassung.

Spurenelemente von Sprechtheater gibt es in „Barocco“ durchaus noch, aber der 145minütige Abend ist im Schwerpunkt eine Nummernrevue von Arien aus Barockopern und Madrigalen, durchbrochen von tänzerischen Einlagen, Anspielungen auf Filme von Andrei Tarkowski und etwas Zaubertrick-Parodie-Comedy von Tilo Werner. So vergnügt wie Serebrennikow durch die Kunstgattungen surft, so wild springt er auch durch die Zeiten. Immer wieder zieht es ihn in die späten 1960er Jahre, als er geboren wurde: Valerie Solanas und Andy Warhol geistern über die Bühne, zu einem zentraleren Referenzpunkt des frei assoziierenden Abends wird Jan Palachs Selbstverbrennung in Prag 1969 aus Protest gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings durch sowjetische Truppen.

Während sich in der ersten Hälfte zu oft nur eine lose verbundene Szene an die nächste reiht, gewinnen die Choreographien in der zweiten Hälfte an Dringlichkeit. Der Straßensänger Jovey, der aus Bolsonaros Brasilien floh und den Serebrennikow im Berliner Mauerpark kennenlernte, erzählt in einem längeren Solo von seinen Wunden. Stellenweise geraten die Bilder diesse Manifests für die Freiheit allzu platt: Daniil Orlov, als Komponist und künstlerischer Leiter ein wichtiger Partner von Serebrennikow bei dieser Inszenierung, kann nur mit einer Hand Klavier spielen, da die andere in den Handschellen von zwei vermummten Sicherheitskräften fixiert ist.

Leitmotivisch zieht sich das „Feuer“ durch den Abend: durch die Geschichten, Videoeinspieler und vor allem auch ganz wörtlich als Bodypainting-Aufschrift der halbnackten Tänzer sowie in diversen Sprachen auf den Pappschildern, die das Ensemble hochhält. Natürlich drängt sich hier sofort die Erinnerung an die stummen Protestaktionen in Russland auf, bei denen schon leere Pappschilder reichten, um im Gefängnis zu landen.

Der Abend, den Serebrennikow und das Thalia Theater allen politisch verfolgten Künstler*innen widmen, ist eine unterhaltsame Revue mit wenigen Längen. Bei aller politischen Leidenschaft erreicht er in seiner Sprunghaftigkeit aber nicht die Meisterschaft von Machine Müller.

Bilder: Fabian Hammerl

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