Im vergangenen Herbst wurde die französische Schriftstellerin Annie Ernaux mit dem Literaturnobelpreis geehrt. Sie wurde bekannt durch die kühl-sezierenden autobiographischen Romane wie „Das Ereignis“ (im Original 2000, auf Deutsch erst 2021) oder „Erinnerung eines Mädchens“ (Original 2016, auf Deutsch 2018). Meist in der dritten Person beschreibt und analysiert die am vergangenen Freitag 83 Jahre alt gewordene Essayistin die Verletzungen, die sie als junge Frau in der konservativ-patriarchalen Gesellschaft der 1950er Jahre erlitten hat. Autobiographische Erinnerungsarbeit und soziologische Gesellschaftsanalyse greifen ineinander, ähnlich wie es das deutsche Lesepublikum von Didier Eribon und Èdouard Louis kennt, die Ernaux als eines ihrer Vorbilder nennen.
In „Erinnerung eines Mädchens“ schildert sie mit dem Abstand mehrerer Jahrzehnte ein Erlebnis im Sommer 1958. In einem Feriencamp war sie als junge Betreuerin dabei und wurde von einem wenige Jahre älteren Chefbetreuer verführt, missbraucht und fallengelassen. Begleitet vom Soundtrack der 1950er Jahre erinnert sich Veronika Bachfischer aus dem Ensemble der Schaubühne an diese einschneidenden Erlebnisse. Auf fast leerer Bühne schildert sie in ihrem 100minütigen Monolog präzise, wie die junge Frau das Eindringen in ihren Körper erlebte.
In der zweiten Hälfte des Abends liegt der Fokus auf den Konsequenzen der kommenden Monate. Als „Nutte“ wird die Protagonistin Annie verhöhnt, in Großbuchstaben schreibt Bachfischer dieses Wort auf die Spiegelwand, die als eines von wenigen Requisiten verwendet wird. Sie stürzt sich in One Night Stands und leidet unter Essstörungen, das Erlebte kann sie lange nicht verarbeiten. Entsprechende Triggerwarnungen zu den expliziten Schilderungen stellte die Schaubühne natürlich auf ihre Website.
Gegen Ende meldet sich aus dem Off ein Chor, zunächst ist nur die unverkennbare Stimme von Ilse Ritter zu hören, weitere Frauen kommen hinzu, es entsteht ein Klangteppich aus feministischem Empowerment von Simone de Beauvoir und anderen. Immer noch allein, aber selbstbewusst steht Bachfischer nun auf der Bühne: der Abend ist in der Gegenwart angekommen, die Autorin Ernaux hat sich den Traumata gestellt und sie literarisch verarbeitet.
„Erinnerung eines Mädchens“ wurde bereits 2021 von drei Spielerinnen im Marstall des Residenztheaters adaptiert, ein Jahr später kam an der Schaubühne während des FIND-Festivals diese Fassung heraus, die Bachfischer mit Regisseurin Sarah Kohm und Dramaturgin Elisa Leroy erarbeitete. Im April 2022 wurde zunächst nur im Studio gespielt, schon in der vergangenen Spielzeit zog die Produktionen in den größeren Globe um. Dort eröffnete „Erinnerung eines Mädchens“ – neben „Vernon Subutex“ – an drei Abenden die neue Spielzeit am Lehniner Platz, die nächsten Vorstellungen folgen vom 7.-10. Oktober 2023.
Bild: Gianmarco Bresadola