Unter all den fiktionalen Werken meist großer alter Männer des Autorenkinos, die traditionell in Cannes um die Goldene Palme konkurrieren, wirkt „Olfas Töchter“ (im Original: „Les filles d’Olfa“) von Kaouther Ben Hania in mehrfacher Hinsicht wie eine Ausnahme.

Junge Regisseurinnen sind weiter in der Minderheit in Cannes, auch wenn mit „Titane“ von Julia Ducournau und „Anatomie eines Falls“ von Justine Triet zuletzt mehrere Autorinnen mit unkonventionellen, starken Handschriften reüissierten. Vor allem ist es aber ungewöhnlich, dass ein Dokudrama im Wettbewerb an der Croisette läuft.

Ben Hania, die mit „Der Mann, der seine Haut verkaufte“ im Venediger Pandemie-Jahrgang 2020 auf sich aufmerksam machte, holte Olfa Hamrouni vor die Kamera, die ihre beiden ältesten Töchter an die Terrororganisation Daesh (auch bekannt als „Islamischer Staat“ oder IS) verlor. Das große Rätsel, warum sich manche Menschen derart radikalisieren und extremistischen Parolen nachlaufen, kann – natürlich – auch dieser 107 Minuten kurze Film nicht lösen.

Die Regisseurin und die Hauptfigur versuchen in ihrem wortreichen Reenactment immerhin eine Annäherung an den Einzelfall der Familie Hamrouni/Chikhaoui: Die beiden verbliebenen jüngeren Tochter und die Mutter treten als sie selbst vor die Kamera. Für zu emotionale Szenen springt mit Hend Sabri eine in Tunesien recht bekannte Schauspielerin, für Olfa ein. Für die beiden verlorenen Töchter, die seit 2016 in libyischer Haft sind, wurden Schauspielerinnen gecastet, die optisch eine gewisse Ähnlichkeit haben.

Etwas schwerfällig macht sich Ben Hania ans Werk, zeigt und thematisiert ihren Arbeitsprozess und alle Sackgassen sehr detailliert. Im konkreten Fall schält sich ein Erklärungsansatz heraus: Olfa wurde von ihrer Mutter nie geliebt und litt unter einer lieblosen Ehe mit dem Mann, den sie verließ. Als alleinerziehende Frau führte sie ein strenges Regiment. Statt an liebevolle, ermutigende Worte erinnern sich die Töchter vor allem an Zurechtweisungen und Einschränkungen. Eine der beiden zu Daesh Übergelaufenen wurde erst zum Gothic und provozierte ihre Mutter mit dunklen Augenringen und düsterer Musik. Im Schlepptau ihrer Schwester legte auch sie den Hijab an und wurde zur religiösen Eiferin. War der religiöse Fundamentalismus für sie nur der nächstliegende Weg, in einer nach dem Arabischen Frühling von 2011 verunsicherten Gesellschaft zu provozieren? Nach diesen 107 Minuten scheint es im ganz konkreten Fall so gewesen zu sein. Eine allgemeingültige Antwort auf Fragen zu den Ursachen der Radikalisierung ist das sicher nicht.

Bei der Premiere in Cannes gewann „Olfas Töchter“ zwar keine der Palmen, aber teilte sich den Preis für den besten Dokumentarfilm des Festivals mit „The Mother of All Lies“ und gewann den Positive Cinema Award, mit dem Werke ausgezeichnet werden, die Hoffnung und Widerstandsfähigkeit stiften. Kurz danach gewann „Olfas Töchter“ bei seiner Deutschland-Premiere auf dem Filmfest München den Hauptpreis im CineMasters-Wettbewerb. Weitere Auszeichnungen auf Festivals in Brüssel und Chicagon folgten, bevor er in dieser Woche beim „Around the World in 14 films“-Festival erstmals in Berlin zu sehen ist. Der bundesweite Kinostart ist für 18. Januar 2024 geplant.

Bild: Twenty Twenty Vision

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