Anthropolis I: Prolog/Dionysos

Der Anthropolis-Marathon von Karin Beier und Roland Schimmelpfennig nimmt erst mal Anlauf. Gemächlich schlendert Michael Wittenborn vom Seiteneingang zur Bühne und schildert im Botenbericht den Ausgangspunkt der Tragödie: Zeus, der sich in einen Stier verwandelt, und Europa schwängert. Schon nach einer halben Stunde verabschiedet Lina Beckmann die Kinder-Statisten und schickt das Publikum in die Pause. Von ihrem Versprechen, dass jeder so viele Freigetränke bekommt wie er möchte, muss sie in einer ersten komödiantischen Einlage mehrfach zurückrudern, bis von der großzügigen Geste kaum noch etwas übrig ist.

Zurück aus der Pause begrüßt Beckmann das Publikum mit einem längeren Comedy-Solo. In der Parodie auf eine Weinprobe kippt sie sich Weiß- und Rotwein sowie Champagner hinter die Binde, richtet eine ziemliche Sauerei an und verteilt auch an das gierige Publikum in den ersten Reihen ein paar Gläser. Das Wichtigste bei einem guten Wein sei, dass er „im Kopf ordentlich knallt“, erklärt die Fachfrau und genehmigt sich einen extra-großen Schluck.

Nach diesem eher volksfesthaften als dionysischen Beginn sind die kommenden zwei Theaterstunden einer Überschreibung der „Bakchen“ des Euripides gewidmet. Als Dionysos musste krankheitsbedingt Daniel Hoevels, bekannt für die Verkörperung eher verkopft-zurückhaltender Typen, für Carlo Ljubek einspringen. Er wird zum zentralen Gegenspieler des Pentheus von Kristof van Boven.

Langsam kommt der Abend auf Betriebstemperatur und läuft in der letzten halben Stunde zu großer Form auf. Zum Theaterspektakel wird dieser Marathon-Eröffnungsabend, wenn eine Taiko-Trommelgruppe die Bühne entert und die rasenden Frauen mit ihrer Klangkunst verkörpert. Abgehetzt und sichtlich unter Schock stürzt dann Mehmet Atesçi auf die Bühne und berichtet davon, wie die Bakchen im Blutrausch den Pentheus in Stücke gerissen haben.

Der letzte Auftritt gehört wieder Lina Beckmann: blutverschmiert reckt sie stolz den Schädel eines vermeintlichen Löwen in die Luft. Viel zu spät dämmert der Agaue, dass sie kein Raubtier gejagt, sondern den eigenen Sohn zur Strecke gebracht hat. Die Szene dient nicht nur dazu, dass der Publikumsliebling neben ihren Stand up-Comedian-Qualitäten auch tragische Fallhöhe demonstrieren darf. Sie ist auch ein dramaturgisch geschickter Cliffhanger, die neugierig auf den 2. Teil macht, die Lina Beckmann-Show „Laios“.

Dieser zweite Teil wurde zum Hit der vergangenen Saison, zum Theatertreffen eingeladen und zum Stück des Jahres gewählt. Der erste Anthropolis-Teil „Prolog/Dionysos“ schaffte es auf die Shortlist des tt, aber nicht in die 10er-Auswahl.

Bilder: Monika Rittershaus

 

 

 

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