Alain Guiraudie bleibt sich treu: wie in seinem bislang größten Erfolg „Der Fremde am See“ (Queer Palm 2013) taucht er wieder in die französische Provinz ein. In einem schwer durchdringlichen Geflecht aus erotischem, diesmal nicht nur homo-, sondern pansexuellem Begehren kommt es zu einem Mord. Die klassische Frage „Whodunit“ stellt sich nicht, in Großaufnahme sehen wir, wie Jérémie (Félix Kysyl) die Leiche seines Rivalen Vincent (Jean-Baptiste Durand) im Wald verscharrt.
„Misericordia“, was man mit Barmherzigkeit und Gnade, übersetzen könnte, konzentriert sich auf die gegenseitigen Verdächtigungen, das Vertuschen und vor allem auch um die Erpressungs-Versuche, mit denen andere ihr Wissen über die Tat instrumentalisieren. Zentrales Motiv ist das sexuelle Begehren, das der ins Dorf zurückgekehrte, geheimnisvolle Fremde auslöst. Anders als in dem sehr expliziten FKK-Cruising-Thriller „Der Fremde am See“ gibt es bis auf eine von Witwe Martine (Catherine Frot) beobachteten Duschszene keine nackten Tatsachen, das Begehren bleibt verdruckst und in den Köpfen des Provinz-Quintetts.
Der aktuelle Film von Guiraudie wurde in der recht neu geschaffenen Cannes Premieres uraufgeführt und tourte seitdem über die nationalen (München, Hamburg) und internationalen (Toronto, New York, London, Sao Paulo) Festivals. Stilistisch spielt Guiraudie mit dem Voyeurismus von Hitchcock, in fast jeder Szene ist ein still beobachtender Dritter präsent, thematisch greift er das „Teorema“-Motiv von Pier Paolo Pasolini auf und variiert die Krimikomödien von Claude Chabrol. In dieses Genre lässt sich „Misericordia“ am ehesten einordnen. Der Humor ist ähnlich schwarz, aber oft noch skurriler mit Drehungen ins Absurde und den Slapstick, zum Beispiel beim Auftritt der ermittelnden Dorfpolizisten und den schmierigen Annäherungsversuchen des Pfarrers (Jacques Develay).
Am Eröffnungswochenende von Around the World in 14 films wurde „Misericordia“ als Hommage an den leider abwesenden Regisseur von Nicolas Wackerbarth, einem der treuesten Paten, mit einer kenntnisreich-knappen Einführung präsentiert. Den Kinostart hat Salzgeber für 6. März 2025 angekündigt.
Bilder: Salzgeber