777/Die sieben Todsünden

Ich will ein großes Orchester!, kräht Sophie Rois in ihrer unvergleichlichen Art. Einer Sophie Rois kann natürlich kein Theater einen Wunsch abschlagen. Uli Khuon räumte ihr die große Bühne kurz vor dem Corona-Lockdown für ihr Torten-Solo „Sophie Rois fährt gegen die Wand im Deutschen Theater“ frei und nach ihrer Rückkehr ans Stammhaus am Rosa Luxemburg-Platz bekommt sie nun ihr Orchester. Im Graben, dem die ersten Sitzreihen weichen mussten, nimmt die Kammersymphonie Berlin Platz. Links und rechts marschieren mehrere Chöre auf (der Hauptchor der Sing-Akademie zu Berlin, der Mädchenchor der Sing-Akademie zu Berlin, der Kapellchor & Cambiata des Staats- und Domchors Berlin und die Männer des Staats- und Domchors Berlin). Eng bedruckt sind die zwei Seiten des Abendzettels mit all den beteiligten Künstler*innen.

Wie ein trotziges Ausrufezeichen wirkt die Opulenz dieses genresprengenden Musiktheater-Abends unter der Regie von Christian Filips (Sing-Akademie zu Berlin). Während am Nachmittag ein Trauerzug durch Berlin zog und die Häuser seit Wochen beklagen, dass die Kürzungen des Senats zu einem Kahlschlag des Berliner Kulturlebens führen werden, stemmen Filips/Rois und Co. einen fast dreistündigen Hybrid aus Oper und Sprechtheater-Rahmenhandlung mit Mammutbesetzung, der zunächst nur 2x in der ausverkauften Volksbühne zu sehen sein wird.

Grundlage des Musiktheaters ist das 1876 in Berlin uraufgeführte Oratorium „Die sieben Todsünden“ des fast vergessenen österreichischen Komponisten Adalbert Goldschmidt, den Rois in der Rahmenhandlung verkörpert, bevor sie zur Fürstin der Finsternis mit kleinen Teufels-Hörnern mutiert. Neben den Todsünden, die in szenischen Miniaturen einzeln vorgestellt werden, setzt sich der Abend vor allem mit den großen gedanklichen Strömungen des späten 19. Jahrhunderts auseinander: über Antisemitismus und Zionismus spricht Theodor Herzl (Ariel Nil Levy), die rote Fahne der Pariser Communardin schwenkt Margarita Breitkreiz und mit dem Nationalismus von Richard Wagner setzen sich zwei weitere Volksbühnen-Urgesteine auseinander: Silvia Rieger schmettert einen Monolog aus dem Rang als Wagner himself, Susanne Bredehöft hat komödiantische Auftritte als seine Tochter.

Mit der Zigarre von Sophie Rois, die sie sich im Wiener „Caféhaus Größenwahn“ gönnt, ist zum Glück nur das Intro stark verqualmt. Ohne Pause rollt dieser wuchtige Abend ab, der sich vor allem an Menschen mit einem Faible für Musik- und Ideengeschichte des 19. Jahrhunderts richtet. Er zieht Querverbindungen von den angesprochenen, ideengeschichtlichen Strömungen in die blutige Geschichte des 20. Jahrhunderts und die Gegenwart. Wer tiefer in das Projekt einsteigen möchte, bekommt als Bonus noch ein halbstündiges Youtube-Video, das auf der Website der Volksbühne verlinkt ist.

Bilder: Johannes Jost

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