Winterreise

Beim Stichwort „Winterreise“ denkt wohl jeder zuerst an die Vertonung von Franz Schubert. Kurz vor seinem frühen Tod entstand diese Adaption des Gedicht-Zyklus als eines der bekanntesten und bis heute meistgespielten Werke der Romantik.

Diesen Stoff griff auch Staatsballett-Intendant Christian Spuck auf, schon 2018 an seiner vorherigen Wirkungsstätte in Zürich und studierte ihn mit seiner Berliner Compagnie neu ein. Doch Spuck entschied sich nicht für den allzu gut abgehangenen Klassiker, sondern eine rauere Neufassung von Hans Zender, die 1993 uraufgeführt wurde. Zenders Interpretation spielt mit den Schubert-Motiven, lässt die romantische Musik aber in dissonant-atonale, postmoderne Klänge übergehen. Die Verzweiflung und Zerrissenheit des wandernden Protagonisten aus dem Gedicht-Zyklus von Wilhelm Müller wird so neu hörbar: eine überzeugende choreographische Entscheidung.

Der Tenor Thomas Blondelle (bei der Premiere am 11. Mai: Matthew Newlin) trägt meist vom Orchestergraben der Staatsoper aus die 24 Stationen der Winterreise vor, nur selten wandert er durch das tänzerische Ensemble auf der Bühne von Rufus Didwiszus. Unter rieselndem Kunstschnee und vom Krähen-Leitmotiv begleitet zeigt Spucks Ensemble eine elegische Choreographie, die aus vielen Gruppen-Szenen und wenigen Soli besteht.

Ein Problem des knapp 90 Minuten kurzen Abends ist, dass die tänzerischen Bewegungen recht gleichförmig bleiben. Lied reiht sich an Lied, selten wechseln Stimmung und Klangfarbe unter dem grauen Dämmerlicht von Martin Gebhardt. Die wenigen Momente, in denen sich das ändert, stechen heraus, z.B. das Duett von Polina Semionova und Timothy Dutson in der Frühlingstraum-Sehnsuchts-Erinnerung.

Schon nach der Premiere blieb der Applaus verhalten, die aktuelle Tanz-Compagnie des Jahres hat noch stärkere, mitreißendere Choreographien in ihrem Repertoire als die Neufassung der „Winterreise“.

Bilder: Carlos Quezada

 

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