Die 9. cineastische Weltreise „Around the world in 14 films“ im Kino Babylon Mitte

Das Around the world in 14 films-Festival hat sich mit einem neuen Besucherrekord im vollen vorweihnachtlichen Berliner Kultur-Terminkalender fest etabliert.

In den vergangenen Tagen seit dem Eröffnungsfilm wurden bemerkenswerte Filme mit einigen Höhen und Tiefen als Berlin- und teilweise auch als Deutschland-Premiere gezeigt. Auffällig war: In diesem Jahr standen besonders viele Werke mit XXXL-Überlänge auf dem Programm, die Sitzfleisch erforderten und nicht nur mit sehr langen Einstellungen die Geduld strapazierten, sondern in ihrem demonstrativen Kunstwillen oft auch nervten. Die positiven Überraschungen kamen aus Ländern, die man sonst kaum auf der Kino-Landkarte wahrnimmt, wie z.B. Bulgarien oder Venezuela. Es ist das große Verdienst des Festivals, diese Entdeckungsreisen zu ermöglichen.

Bei den Publikumsmagneten erwies sich die Bestuhlung im Kino Babylon Mitte am Rosa-Luxemburg-Platz manchmal als Nachteil, da in einigen Fällen schon Geschick nötig war, nicht ständig den Kopf eines Vordermanns oder einer Vorderfrau in der Sichtachse auf die Leinwand und die Untertitel zu haben.

Die interessantesten Stationen in chronologischer Reihenfolge:

I. Marokko: L´Armée du Salut (2013, 84 Minuten)

Die Filmpatin Sherry Hormann brachte es gut auf den Punkt. Ihre erste Reaktion: Schon wieder ein Coming-out-Drama. Die zweite Reaktion: Der Erzählstil des marokkanischen Regisseurs Abdellah Taïa und seiner Kamerafrau Agnès Godard provoziert unsere Sehgewohnheiten. In sehr langsamem Tempo zeichnet er das Bild einer arabischen Großfamilie. Erst auf den dritten Blick entfaltet die Geschichte einen Sog, wenn man ihr eine Chance gibt und dranbleibt.

L´Armée du salut ist das Filmdebüt von Abdellah Taïa und beruht auf seinen autobiographischen Erfahrungen, die der 1973 geborene Mann während seiner Jugend gemacht und bereits 2006 in seinem gleichnamigen Buch reflektiert hat. In seiner streng-muslimischen Familie war Homosexualität ein Tabu, so dass er sie nur heimlich ausleben konnte. Aber auch die neu gewonnene sexuelle Freiheit in Genf und Paris, wo er seit 1999 lebt, macht ihn nicht glücklich.

II. Türkei: Winterschlaf (2014, 196 Minuten) – Kinostart: 11. Dezember 2014

Der türkische Regisseur Nuri Bilge Ceylan ist bereits zum dritten Mal bei der cineastischen Weltreise vertreten: Nach Three Monkeys (2008) und Once upon a time in Anatolia (2011) wurde diesmal Winterschlaf, der Gewinner der Goldenen Palme von Cannnes im Mai 2014, ausgewählt.

Glänzende Aufnahmen der kappadokischen Landschaft können nicht über die zentrale Schwäche des Films hinwegtäuschen. Mehr als drei Stunden lang steht ein unsympathischer, zynischer, verbitterter, alter Mann im Mittelpunkt, der als Schauspieler nur mäßig erfolgreich war und sich als Hotelier in ein abgeschiedenes Bergdorf zurückgezogen hat. Er ist stolz auf seine Kolumne in einem kaum gelesenen Lokalblättchen und verbringt sonst den Tag damit, seiner geschiedenen Schwester und seiner attraktiven jungen Frau ihre intellektuelle Unterlegenheit vorzuwerfen und ihnen das Leben zur Hölle zu machen. Erst in der zweiten Hälfte gewinnen die Dialoge an Brisanz und Schärfe, zu langatmig schleppt sich der Läuterungs-Prozess des alten Mannes vor sich hin.

Der Regisseur war leider nicht anwesend, aber Filmpate Wim Wenders konnte die Hauptdarstellerin Melisa Sözen präsentieren, die jedoch zu keinem Publikums-Gespräch zur Verfügung stand, sondern nur nett lächelte.

Webseite zu Winterschlaf

III. Schweden: Something must break (2014, 81 Minuten)

Ester Martin Bergsmark und Eli Levén waren eine Zeit lang ein Transgender-Paar und arbeiteten bereits bei She Male Snails zusammen, bevor sie gemeinsam das Drama Nånting Måste Gå Sönder/ Something must break realisierten.

Der Film nähert sich auf sensible Art und Weise der schwierigen Beziehung zwischen Sebastian, der sich mit seinem männlichen Geschlecht nicht mehr wohl fühlt, betont androgyn auftritt und ab einem bestimmten Punkt Ellie genannt werden will, und Andreas. Seit der ersten Begegnung am Rande eines Konzerts besteht eine starke Anziehung zwischen den beiden Hauptfiguren, die sich in ihrer gepiercten Punk-Rebellion gegen das Establishment einig sind.

Obwohl manche Verhaltensänderungen der beiden Protagonisten etwas abrupt kommen, ist das Ringen der beiden um- und miteinander durchaus sehenswert. Merkwürdig bleibt jedoch, mit welcher Penetranz das Rauchen in diesem Film als Symbol für Abenteuerlust und Freiheit abgefeiert wird, als ob wir in der gesellschaftlichen Diskussion vor Jahrzehnten stehen geblieben wären.

Edition Salzgeber wird den Film voraussichtlich Ende März 2015 ins Kino bringen.

IV. USA: Foxcatcher (2014, 130 Minuten) – Kinostart: 29. Januar 2015

Bennett Miller wurde 2005 mit dem Biopic Capote bekannt, Philip Seymour Hoffman gewann damals den Oscar als Bester Hauptdarsteller. Seitdem drehte Miller nur zwei weitere Filme, die beide tief in das Sportler-Milieu eintauchen und auf wahren Begebenheiten beruhen. In Moneyball/Die Kunst zu gewinnen (2010) ging es um ein Baseball-Team, das die US-Major League mit unkonventionellen Methoden revolutionierte.

Sein neuer Film Foxcatcher beschreibt das Abhängigkeitsverhältnis von Mark Schultz, Olympiasieger von 1984 im Ringen, von dem exzentrischen, komplexbeladenen Multimillionär John The Eagle du Pont (Steve Carrell, der bisher nur in Komödien zu sehen war und deshalb eine ungewöhnliche Besetzung für dieses Drama ist).

Channing Tatum verkörpert den blauäugig in die Verstrickung hineinstolpernden Muskelprotz überzeugend. In den mehr als zwei Stunden wird der Film den hohen Erwartungen, die der interessant geschnittene Trailer und die Auszeichnung für die Beste Regie 2014 in Cannes geweckt hatten, jedoch nicht ganz gerecht.

V. Bulgarien: Viktoria (2013, 153 Minuten)

Maya Vitkovas Langfilm-Debüt Viktoria ist eine der großen Entdeckungen dieses Festivals! Die 1978 geborene bulgarische Regisseurin nimmt uns in ihrem opulenten, teils surrealen, teils hyperrealistischen Werk mit auf eine Zeitreise in die Tristesse des real existierenden Sozialismus.

Autobiographisch inspiriert erzählt sie von einem schwierigen Großmutter-Mutter-Enkelin-Verhältnis. Die Titelfigur Viktoria wird Ende 1979, ein Jahrzehnt vor dem Zusammenbruch des Sozialismus, als ungeliebtes Kind geboren. Ihre Mutter träumt von einer Flucht nach Venedig, ist fasziniert von Coca-Cola und versucht mit reichlich Alkohol und Nikotin, Schwangerschaften sofort wieder zu beenden und Bindungen zu vermeiden. Als ihr dies in einem Fall nicht gelingt, kommt Viktoria als Baby ohne Nabelschnur und Bauchnabel auf die Welt.

In starken Bildern und überschäumend vor Erzählfreude schildert Vitkova die märchenhafte Existenz ihrer Hauptfigur Viktoria während der Schiwkow-Jahre: Während sie in den Augen ihrer Mutter nur ein lästiger Klotz am Bein ist, der ihrem Traum von der Freiheit im Goldenen Westen im Weg steht, wird sie vom Staats- und Parteichef des sozialistischen Regimes als Baby des Jahrzehnts verehrt und mit persönlicher Standleitung in Schiwkows Büro und teuren Geschenken verwöhnt.

Im letzten und leider schwächsten Kapitel des Films sind alle Illusionen geplatzt: die Großmutter wird alt und krank, als linientreue Parteigängerin schmerzt sie der Systemumbruch am meisten. Die Mutter ist zwar die Diktatur los, aber auch in der Transformationsperiode zur Demokratie bleibt sie unglücklich. Die 10jährige Viktoria steht plötzlich ohne ihren Ersatz-Vater, den gestürzten Staatschef, da und nähert sich langsam ihrer eigenen Familie an.

Viktoria ist ein erstaunlich reifes Debüt und überzeugte die Fachpresse in den USA bereits bei der Premiere in Sundance im Januar 2014. Fesselnde Szenen, witzige Einfälle und visuell überzeugende Einstellungen machen diesen Film zu einem interessanten Erlebnis. Vor allem im letzten Drittel des Films drohen die Längen überhand zu nehmen, aber mit überraschenden, eindrucksvollen Bildern schafft es Vitkova doch immer wieder, die Kurve zu bekommen.

Der Film wurde von ihr gemeinsam mit ihrem Landsmann Samuel Finzi (häufiger Gast auf Theaterbühnen, bekannt aus Inszenierungen v.a. von Dimiter Gotscheff sowie der ZDF-Reihe Flemming) als ihrem Filmpaten präsentiert.

VI. Argentinien: Jauja (2014, 108 Minuten).

Jauja ist zwar bereits der vierte Film des argentinischen Regisseurs Lisandro Alonso. In Deutschland ist er jedoch noch ein Insider-Tipp.

Sein neues Werk ist ein vom magischen Realismus inspirierter Western, der mit wenig Dialogen und glänzenden Landschaftsaufnahmen Patagoniens die verzweifelte Suche des dänischen Ingenieurs Gunnar Dinesen nach seiner vermissten Tochter Ingeborg beschreibt. Alonso bedient sich mit vollen Händen bei mythischen und popkulturellen Stoffen, in den knappen Gesprächen geht es u.a. um die Sehnsucht nach Jauja, einer Art El Dorado aus Inka-Überlieferungen, sowie um die Angst vor Zuluaga, eine Figur, die sichtlich an Colonel Kurtz aus Joseph Conrads Herz der Finsternis angelehnt ist.

Jauja mäandert in zu langen Einstellungen recht zäh zwischen den allzu symbolisch aufgeladenen Ebenen hin und her. Dass der Film in der Sektion Un certain regard auf dem Cannes-Festival 2014 mit dem FIPRESCI-Kritikerpreis ausgezeichnet wurde, ist vor allem den beeindruckenden Landschaftsaufnahmen und dem Hauptdarsteller Viggo Mortensen zu verdanken, der wie nur wenige den Spagat zwischen Blockbuster und Filmkunst schafft.

VII. Taiwan: Stray Dogs (2013, 138 Minuten)

Filmpate Philip Gröning warnte zurecht davor, dass Tsai Ming-Liangs Alterswerk Stray Dogs schwer auszuhalten ist.

Der taiwanesische Regisseur sorgte in den 1990er Jahren mit Vive l´amour (Goldener Löwe, Venedig 1994) und Der Fluss (Silberner Bär, Berlinale 1997) für Furore. Sein letzter Spielfilm ist eine depressive Meditation über die Bindungslosigkeit der Großstadt-Menschen, die Hauptfiguren quälen sich wie streunende Hunde durch Armut, Müll und strömenden Regen durch die Randbezirke von Taipeh.

Dieser Film polarisiert: in der ersten Stunde verließen viele den Saal, die Jury in Venedig zeichnete ihn 2013 mit dem Großen Preis aus.

VIII. Israel: The Kindergarten Teacher (2014, 119 Minuten)

In Nadav Lapids zweitem Spielfilm steht eine neurotische Kindergärtnerin im Mittelpunkt, die unter der Gefühlkälte ihres Mannes leidet und sich in den Wahn hineinsteigert, ein fünfjähriges angebliches Wunderkind zum Dichter machen zu müssen. Der zweistündige Film müht sich zwanghft ab, möglichst poetisch zu wirken. Denn dies ist die zentrale gesellschaftspolitische Diagnose des Regisseurs: zu viel technokratischer Pragmatismus, zu wenig Poesie.

Der Film ist streckenweise eine recht interessante psychologische Fallstudie, schleppt aber das schwere Gepäcl seiner Überambitioniertheit mit sich herum.

IX. Venezuela: Pelo Malo/Bad Hair (2013, 93 Minuten)

Mariana Rondóns Pelo Malo zählt zu den positiven Überraschungen der Around the world-Woche. Seit dem Gewinn der Goldenen Muschel in San Sebastián wurde der Film schon auf 36 weiteren internationalen Festivals präsentiert.
Pelo Malo zeichnet sich durch ein gutes Gespür für Timing, einen humorvoll-nachdenklichen Plot und vor allem zwei exzellente Hauptdarsteller aus. Die Theaterschauspielerin Samantha Castillo spielt die von der Härte ihres Alltags als alleinerziehende Arbeitslose verbitterte Mutter. Samuel Lange wurde im Schultheater entdeckt und verkörpert den kleinen Junior, der von einer Gesangskarriere träumt und aus dem grauen Alltag der Hochhaussiedlung in Caracas ausbrechen möchte. In seiner Oma hat er eine wichtige Verbündete für diesen Traum.

Rondón versteht, aus ihrer auf den ersten Blick recht simplen Geschichte Funken zu schlagen. Die schauspielerischen Leistungen und fein gezeichneten Charaktere, die amüsanten bis tragikomischen Dialoge und die häufig eingestreute Kritik am Regime des mittlerweile verstorbenen Hugo Chavéz machen diesen Film zu einem bemerkenswerten Seh-Erlebnis. Für die Regisseurin hatte es jedoch zur Folge, dass sie von den zuständigen Behörden Venezuelas aufgefordert wurde, alle jemals erhaltenen Fördergelder zurückzuzahlen.

X. Russland: Hard to be a god/Trudno byt bogom (2013, 170 Minuten)

Ähnlich langatmig und ziellos wie die fast halbstündige Einführung von Svetlana Karmalita, der Witwe des kurz vor der Fertigstellung verstorbenen Regisseurs Alexei German, schleppt sich auch die erste Stunde dieses Films dahin. Hard to be a god basiert auf dem gleichnamigen Science fiction-Epos der Brüder Arkadi und Boris Strugatsky über die Zivilisation auf dem Planeten Arkanar, die etwas auf dem Entwicklungsstand des Mittelalters, jedenfalls vor Renaissance und Aufklärung steht.

Die düsteren Schwarz-weiß-Bilder zeigen keine Entwicklung ihrer Charaktere, auch eine Handlung ist nur in Umrissen erkennbar, so dass sich auch hier die Sitzreihen deutlich lichten.

XI. Frankreich: Adieu au langage (2014, 70 Minuten)

Jean-Luc Godard gehörte zu den jungen, wilden Regisseuren, die mit der Nouvelle Vague das Kino erneuerten. Auch in seinem jüngsten Werk lotet der mittlerweile 83jährige die Grenzen der Filmkunst. Assoziativ-essayistisch taucht er in 3D-Welten ein, experimentiert mit Effekten und Erzählweisen. In Cannes wurde er gemeinsam mit dem jüngsten Regisseur Xavier Dolan (für Mommy) mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet.

Nicht alle Zuschauer wollten sich auf diesen Film einlassen, an den sich die Augen erst gewöhnen müssen. Dementsprechend war die Abwanderungsquote auch hier recht hoch.

XII. Ukraine: Maidan (2013, 130 Minuten)

Zum Abschlussfilm Maidan gaben sich sogar Bundespräsident Joachim Gauck und seine Lebensgefährtin die Ehre. Der renommierte Dokumentarfilm-Regisseur Andres Veiel stellte als Filmpate seinen Kollegen Sergej Loznitsa und dessen neues Werk Maidan vor. Zwischen Dezember 2013 und Februar 2014 verfolgte das ukrainische Kamerateam die Proteste auf dem zentralen Platz von Kiew, wo sich der Machtkampf zwischen der Demokratiebewegung und der Clique um den Präsidenten Janukowitsch in mehreren dramatischen Wendungen zuspitzte.

Der Regisseur entschied sich bewusst für sehr lange Einstellungen ohne Schnitt und verzichtete bis auf weniger Zwischen-Einblendungen auf jegliche Kommentare. Die Bewertung der Ereignisse überlässt er ganz dem Zuschauer, was aber zwangsläufig einiges Vorwissen voraussetzt.

Das Around the world in 14 films-Festival

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