Lessingtage 2021

Ein erstes Highlight im Kulturkalender von Hamburg sind traditionell die Lessingtage am Thalia Theater Ende Januar. Wegen Corona kann das Festival in diesem Jahr natürlich nicht wie gewohnt mit internationalen Gastspielen stattfinden. Stattdessen lud das Thalia die Partner-Bühnen aus dem mitos21-Netzwerk ein, eine Inszenierung aus ihrem Stream auszuwählen und bei der digitalen Version „Voices from Europe“ zu präsentieren.

Dadurch entstand ein bunter Strauß von Theater-Arbeiten: manche ganz aktuell unter Corona-Abstands-Bedingungen produziert, viele jedoch schon knapp fünf Jahre alt, oft handelt es sich um Bearbeitungen antiker Mythen oder klassischer Stoffe. Dieser Streifzug durch die aktuelle europäische Theaterlandschaft hat einen Makel: es fehlt eine kuratorische Handschrift, jedes Partner-Theater entschied selbst, welche Inszenierung es zum digitalen Programm beisteuert, so dass die Auswahl recht beliebig und ohne roten Faden zusammengewürfelt wirkt, wie auch die taz in einer Bilanz zur Halbzeit des Festivals bemängelte.

Den Auftakt machten die Gastgeber*innen vom Thalia Theater mit dem einzigen Live-Stream des Festival-Programms: Christopher Rüping wollte in dieser Spielzeit ursprünglich aus der „Paradies“-Trilogie von Thomas Köck einen ausufernden, vielstündigen Abend im Stil seiner „Dionysos. Stadt“-Produktion an den Münchner Kammerspielen. Corona-bedingt wurde daraus zur Spielzeiteröffnung im September 2020 zwischen den beiden Lockdowns nur eine zweistündige, sehr statische Schrumpf-Version präsentieren. Mit diesem Live-Stream eröffneten die Lessingtage 2021 am 20. Januar.

Das digitale Gastspielprogramm wurde gemeinsam mit dem Dramaten, dem schwedischen Nationaltheater, ausgewählt. Mattias Andersson, seit 2020 neuer Intendant in Stockholm, wählte „Idioten“, eine eigene Inszenierung aus, die er bereits im Herbst 2015, als er noch in Intendant in Göteborg war, am Dramaten erarbeitet hat: Wie bei Jürgen Gosch ist das sehr unübersichtliche Figuren-Personal aus Fjodor Dostojewskis Roman-Wälzer „Der Idiot“ von Beginn an im Hintergrund der ansonsten leeren Bühne präsent. Skeptisch beäugen sie den Neuankömmling Prinz Myshkin (David Dencik), der mit seiner großherzigen Naivität und seiner christlichen Nächstenliebe der Gegenpol zu ihren Machtspielen, Intrigen und kühl berechneten Heirats-Arrangements ist.

Fast zwei Stunden lang lässt Andersson seine Spieler*innen die Grundkonflikte des ausufernden Dostojewski-Romans nachzeichnen, schlägt dann aber den Bogen zur unmittelbaren Gegenwart: Ein Flüchtling hat schon zuvor mehrere kurze Auftritte und greift in der letzten halben Stunde in das Geschehen ein. In der auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise im Herbst 2015 entstandenen Inszenierung konfrontiert er die Dostojewski-Figuren und das Publikum mit der Frage, welches Verhalten in dieser Krise moralisch richtig ist, und prangert die Abschottung an. Leitartikelhaft und im soziologisch-kulturwissenschaftlichen Jargon tauschen sich die Spieler*innen nun über „White Privilege“ und die Globalisierung aus, bevor die Inszenierung mit einem kitschigen Schlussbild endet: der Fürst Myshkin sitzt in einer großen Gruppe von Schüler*innen des Sundbyberg Theater Studio.

Stilistisch völlig anders war die „Idiot“-Aaption des Moskauer Theaters der Nationen von Maxim Didenko, die einige Tage später als Online-Gastspiel zu sehen war. Dostojewskis Roman und seine Figuren sind in dieser pantomimischen Clownerie nur noch in Spurenelementen enthalten. Die 90 Minuten wirken wie L’art pour l’art und in ihrer Selbstreferentialität ermüdend.

Guy Cassiers, seit 2006 künstlerischer Direktor des Toneelhuis in Antwerpen, steuerte einen Doppelabend mit zwei Mythen-Überschreibungen bei: „Antigone in Molenbeek“ von Stefan Hertmans verlegt die Tragödie der Schwester, die ihren verfemten Bruder trotz Verbots begraben will, in den Brüsseler Stadtteil Molenbeek, der traurige Berühmtheit erlangte, da die Islamisten dort einige Attentäter der Anschläge von Paris 2015 rekrutierten. Aus Antigone wird in dieser modernen Übermalung die Jurastudentin Nouria, die auf dem Polizeirevier, in der Leichenhalle und schließlich vor Gericht darauf beharrt, dass sie nach den Überresten ihres Bruders suchen will, und ebenso tragisch endet wie ihr antikes Vorbild. Der „Antigone in Molenbeek“-Text ist Milieustudie, Erinnerungsarbeit und fiebrige Odyssee der Protagonistin, die von Ikram Aouland gespielt wird.

In der zweiten Hälfte des Gastspiels aus Antwerpen erzählt Kae Tempest vom Mythos des blinden Sehers „Tiresias“, der nach Schlangenbissen vom Mann zur Frau wurde und sich wieder zurückverwandelte. In der niederländischen Übersetzung, die Katelijne Damen vorträgt, geht einiges von der vorwärtstreibenden Sprachgewalt des Originals verloren, die Kae Tempest 2015 als Spoken Word Performance auf die Bühne des Londoner Royal Court Theatre brachte.

Beide so unterschiedlichen Antiken-Überschreibungen aus Antwerpen haben gemeinsam, dass sie wie Hörspiele mit Kammermusik-Untermalung wirken und ihnen deutlich anzumerken ist, dass sie 2020 schon unter Corona-Abstandsregeln inszeniert wurden. Zu den Schostakowitsch-Streicher-Klängen des Danel Quartets tragen die beiden Solistinnen ihre Texte recht statisch und ohne größere szenische Einfälle vor. Das Wort steht im Mittelpunkt dieses Abends.

Aus Italien war eine spannende Wiederentdeckung zu Gast: „So ist es (wenn es Ihnen so scheint) / Così è (se vi pare)“ ist eine raffiniert gebaute Komödie über Wahn und Wirklichkeit, mit der Luigi Pirandello bei der Uraufführung 1917 seine ersten Erfolge feierte. Der Literaturnobelpreisträger von 1934 ist auch wegen seiner zweifelhaften Nähe zu den Faschisten von Mussolini heute fast vergessen, seine Stücke werden auf deutschen Bühnen kaum noch gespielt.

Die Lessingtage sind deshalb eine gute Gelegenheit, sein Werk in einer Inszenierung von Filippo Dini für das Teatro Stabile Torino zu erleben, die im November 2018 Premiere hatte und mehrfach ausgezeichnet wurde. Pirandello führte eine klatschsüchtige Kleinstadt-Gesellschaft vor, die sich ihre Mäuler über das merkwürdige Verhalten von Zuzüglern aus dem italienischen Süden zerreißen. Die Spieler*innen werfen sich lustvoll in die Wortgefechte und steigern sich in hysterische Spekulationen hinein. Ein Nachteil dieses Streams ist es, dass die Dialoge im italienischen Original oft in so hohem Tempo abgefeuert werden, dass man kaum hinterher kommt, die englischen Untertitel mitzulesen.

Der Clou dieses Stücks ist, dass sich Schwiegermutter und Schwiegersohn gegenseitig des Wahnsinns bezichtigen und die Kleinstadt-Gesellschaft hin und her gerissen ist, wem sie glauben soll. „So ist es (wenn es Ihnen so scheint)“ ist eine unterhaltsame Sittenbild-Komödie einer engstirnigen Gesellschaft, aber zugleich auch spannendes Gedankenexperiment, das die Suche nach der Wahrheit ad absurdum führt.

Der zweite italienischsprachige Beitrag des Festivals war „Il cielo non è un fondale / Der Himmel ist keine Kulisse“ des Autor*innen- und Regie-Duos Autoren- und Regieduos Daria Deflorian und Antonio Tagliarini. Auf leerer Bühne verhandeln sie in ihrer wortlastigen, von wenig Musik begleiteten Performance einige grundsätzliche Fragen des menschlichen Zusammenlebens. Diese Inszenierung wurde 2016 vom Odéon – Théâtre de l’Europe, Paris koproduziert.

Einen kleinen autobiographischen Monolog steuerte das Teatre Lliure aus Barcelona bei: Eva Lyberten erzählt in „Una/Eine Frau“ von ihrer Zeit als Softporno-Darstellerin in Low Budget-Filmchen, die ab Mitte der 1970er Jahre während der anarchischen Zeit der Transition nach dem Tod von Franco entstanden. Regisseurin Raquel Cors und Dramaturgin Dani Lacasa entwickelten mit Lyberten eine knapp einstündige, live von einer Saxofonistin begleitete und Erinnerungsstimmen unterbrochene Performance, in der Lyberten über ihre Rebellion gegen katholische Moralvorstellungen und verkrustete, autoritäre Strukturen berichtet und von den Gewalterfahrungen erzählt, die sie nach dem Ende ihrer recht kurzen Film-Laufbahn machen musste.

Einen starken Auftritt haben die jungen Aktivist*innen von Fridays for Future im Düsseldorfer Online-Gastspiel „Volksfeind for Future“. Kenntnisreich und selbstbewusst vertreten sie ihre Forderungen in Video-Einspielern und setzen damit die Politik vor Ort unter Druck. Der Rest des knapp zweistündigen Abends fällt jedoch deutlich ab: zu holzschnittartig sind die Figuren, die Lothar Kittstein, der zuletzt für die Münchner Kammerspiele eine geisterhafte Familienaufstellung von Thomas, Erika und Klaus Mann konzipierte, in seiner Übermalung des Ibsen-Klassikers zeichnet. Vor allem die Grüne Oberbürgermeisterin (Mina Wündrich), die beim Marsch durch die Institutionen alle Ideale über Bord geworfen hat, ist nur eine Pappkameradin. Das Ibsen-Drama „Ein Volksfeind“, das auch heute noch erstaunlich aktuell ist und leidenschaftliche Debatten auslösen kann, wird in dieser Inszenierung von Volker Lösch, die im September 2020 am Schauspielhaus Düsseldorf Premiere hatte, verzwergt.

Eine zweite Ibsen-Bearbeitung stammt vom Katona József Theater in Budapest: „Nora – Weihnachten bei Helmers/Nóra – karácsony Helmeréknél“, die im Advent 2016 Premiere hatte, ist auf halbem Weg zwischen klassischen Ibsen-Inszenierungen und radikalen Übermalungen von Simon Stone zu verorten. Die junge Regisseurin Kriszta Székely übernahm in ihrer Abschlussarbeit zwar das gesamte Figuren-Personal aus Ibsens Drama und folgt auch weitgehend dem Plot, sie betont aber das Telenovela-artige der Konflikte und modernisiert die Dialoge. Der Soap-Charakter nimmt aber nie so überhand, wie es bei Simon Stone stets der Fall ist, der das Personal komplett austauscht und sich nur noch von einzelnen Motiven inspirieren lässt.

Die Präsentation dieser Arbeit bei einem paneuropäischen Festival ist sicher als politisches Statement zu verstehen: „Nora – Weihnachten bei Helmers“ ist an der Budapester SZFE, der Universität für Theater- und Filmkunst, entstanden, die momentan in einem heftigen Konflikt mit der Regierung von Viktor Orbán liegt. Zahlreiche Künstler*innen haben sich in den vergangenen Wochen mit der SZFE solidarisiert. Das Berliner Ensemble organisierte Mitte Januar ein Solidaritäts-Panel, das live im Netz gestreamt wurde. Auch die emanzipierte Nora, die Eszter Ónodi sehr selbstbewusst anlegt und aus ihrer Ehe ausbricht, entspricht sicher nicht den Rollenbildern und Familienvorstellungen der autoritären, rechtspopulistischen FIDESZ-Regierung Ungarns.

Die beiden Berliner Online-Gastspiele habe ich bereits vor dem Festival live gesehen: das Deutsche Theater hatte Glück, dass Anne Lenk ihre „Maria Stuart“-Inszenierung noch am letzten Wochenende unmittelbar vor dem Lockdown zur Premiere bringen konnte. Die Figuren aus Schillers Königinnen-Drama sind Corona-konform in Setzkästen eingesperrt, so dass die Tragödie sehr leblos wirkt. Wesentlich älter ist der Beitrag des benachbarten Berliner Ensembles: zum Start von Oliver Reeses Intendanz inszenierte Hausregisseur Michael Thalheimer den „Kaukasischen Kreidekreis“ von Bertolt Brecht. Nach einem Zerwürfnis mit dem Bühnenbildner blieb die Bühne auch damals im September 2017 weit vor Corona leer, aber die Performance von Hauptdarstellerin Stefanie Reinsperger ist absolut nicht Corona-konform: sie brüllte sich die Seele aus dem Leib und schleuderte ihre Aerosole durch den Raum.

Vorschaubild von Matthias Horn: Stefanie Reinsperger in „Der Kaukasische Kreidekreis“

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