Tragödienbastard

Die Wut einer jungen Migrantin schleudert uns Ewe Benbenek in „Tragödienbastard“ entgegen. Um das Gefühl, nirgends dazu zugehören und zwischen den Stühlen zu sitzen, geht es in ihrem Stück, das glücklicherweise noch unmittelbar vor dem langen zweiten Lockdown am Schauspielhaus Wien uraufgeführt werden konnte.

Benbenek, die selbst mit ihren Eltern in den 1980ern Jahren aus Polen nach Niedersachsen kam, schildert in ihrem Stück das Unverständnis und die Sprachlosigkeit zwischen einer Enkelin und ihrer Großmutter, die sie in Polen besucht: die PiS-Anhängerin hält das starre Korsett konservativer, katholischer Wertvorstellungen fest und macht der Enkelin Vorwürfe, dass sie immer noch nicht verheiratet ist.

Die erdrückende Enge und das Gefühl der Fremdheit werden in der ersten Stunde des Stücks quälend spürbar, da Uraufführungs-Regisseur Florian Fischer das Schauspieler*innen-Ensemble in ein streng stilisiertes Regiekonzept zwängt, das stark an die Arbeiten von Susanne Kennedy erinnert. Der Text wird nur per Schriftband eingeblendet oder kommt aus dem Off, die drei Generationen, die sich in einem tristen Wohnzimmer treffen (Bühne: Lilli Anschütz), haben sich hinter Masken verschanzt und tragen Einheitslook (Kostüme: Henriette Müller).

Hinter Masken erstarrtes Trio Clara Liepsch, Til Schindler, Tamara Senzow

Um so größer ist das Gefühl der Befreiung, als zur Halbzeit die Masken plötzlich fallen und das Trio die Selbstermächtigung einer jungen Frau feiern. Der Text ist zwar als weiblicher Monolog angelegt, die Idee des Uraufführungs-Regisseurs Fischer, ihn auf ein diverses Trio aufzuteilen, funktioniert sehr gut. Auf High Heels balancieren, rennen und protestieren Clara Liepsch, Til Schindler und Tamara Semzow: Zwei sprechen durchgängig Hochdeutsch, eine lässt immer wieder osteuropäischen Akzent durchhören. Zwei treten als selbstbewusste Frauen, der Dritte nicht weniger selbstgewiss in einem schillernden Drag-Outfit aus Träger-Top, kurzem Latex-Rock und den für alle drei Spieler*innen obligatorischen High Heels. Sehr facettenreich performt dieses heterogene Trio die Hauptfigur.

Benbeneks Wut-Oratorium ist ein interessanter Text und erhielt verdientermaßen eine Einladung zum Mülheimer Theaterfestival, das jährlich die stärksten Uraufführungs-Texte der Saison vorstellt. Mülheim konnte trotz der Corona-Ausnahmesituation in seinen gratis abrufbaren Streams einen erstaunlich starken Festival-Jahrgang mit überzeugenden Texten wie „9/26 – Das Oktoberfestattentat“ von Christine Umpfenbach, „Stummes Land“ von Thomas Freyer, „Reich des Todes“ von Rainald Goetz oder „Und sicher ist mit mir die Welt verschwunden“ von Sibylle Berg präsentieren. Überraschend setzte sich Benbeneks „Tragödienbastard“ in der entscheidenden Abstimmung auch mit 3:2 gegen „Reich des Todes“ durch und gewann den 15.000 € dotierten Hauptpreis des Mülheimer Festivals.

Bilder: Matthias Heschl

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