Um Sandra Hüller reißen sich die Theater und Filmemacher. Sie kann sich aussuchen, mit wem sie arbeitet, und geht konsequent ihren eigenen Weg. Sie verließ das Ensemble des Schauspielhaus Bochum, wo sie als „Hamlet“ in der Inszenierung von Johan Simons beim digitalen Theatertreffen 2020 einen letzten großen Auftritt hatte, und wählte Leipzig als ihren Lebensmittelpunkt. Im Kino ist sie ab 1. Juli als Side-Kick von Maren Eggert in der Androiden-Tragikomödie „Ich bin Dein Mensch“ von Maria Schrader zu erleben.
Am liebsten arbeitet sie wohl mit dem FARN. collective, das sie 2016 mit Regisseur Tom Schneider, Dramaturg Tobias Staab, Bühnenbildner Michael Graessner und den Musikern Sandro Tajouri und Moritz Bossmann gründete. Sie landeten gleich mit ihrer ersten Arbeit einen Hit: ihre Musik-Performance nach Wolfgang Herrndorfs Roman-Fragment „Bilder deiner großen Liebe“ eroberte vom Zürcher Theater Neumarkt aus die deutschsprachige Theaterszene und tourte über die Festivals. Während Hüllers Bochumer Engagement folgte „Die Hydra“, ein ebenso skurriler wie schwer zugänglicher, kurzer Abend, inspiriert von Heiner Müller.
Müller-Texte fließen auch in die neue, mittlerweile dritte FARN-Produktion „The Shape of Trouble to Come – Ein posthumanes Ritual“ ein. Im Zentrum steht aber klar Donna Haraway, eine mittlerweile emeritierte poststrukuralistische, feministische Denkerin, die in manchen Kreisen Kultstatus genießt, der René Pollesch eine Hommage-Inszenierung am Deutschen Theater Berlin im Dezember 2019 widmete. Sandra Hüller, der Star des Kollektivs, schlüpft in schillernde Schmetterlings-Kostüme und trägt Passagen aus dem aktuellsten Haraway-Text „Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän„, der 2018 auf Deutsch erschien über den Mensch-Schmetterling-Hybrid Camille vor.
Doch auch Sandra Hüller kann diesen 75 Minuten kurzen Abend nicht zum Strahlen bringen, der am 18. Juni zunächst live gestreamt wurde und heute Abend am Schauspiel Leipzig auch vor Publikum analog gezeigt wird, bevor er zu den Schlossfestspielen Ludwigsburg und in der kommenden Spielzeit ans koproduzierende Schauspielhaus Bochum weiterwandert. Zu beliebig wirkt die Inszenierung. Christine Dössel fand in ihrer SZ-Besprechung dafür das schöne Wort „schwammpilzig“. Vor den langen Haraway-Soli-Passagen, die auch mit Pollesch-artigen Wortgefechten garniert sind, verliert sich die Performance in Klavier-Slapstick und Tonband-Nostalgie, die stark an Christoph Marthalers Stil erinnern.
Zu wimmelbild-artig und hektisch wirkt auch die Kamera-Führung im Live-Stream, so dass vieles von dem Geschehen auf Michael Graessners Bühne untergeht, das bei den analogen Aufführungen im Theater hoffentlich besser zur Geltung kommt. Neben Sandra Hüllers Monologen ist in diesem avantgardistischen Experiment Christoph Müllers zart gesungene The Foreigners-Hymne „I want to know what love is“ einer der Lichtblicke, er wechselte vor kurzem vom Schauspiel Hannover ins Leipziger Ensemble.
Bilder: Andreas Schlager