Einen bitterbösen, galligen Text schrieb Sivan Ben Yishai als Auftragswerk für die Schillertage Mannheim. „Wounds are forever (Selbstportrait als Nationaldichterin)“ bohrt in den Wunden des komplizierten Beziehungsgeflechts aus Gewalt, Traumata und historischer Schuld zwischen Deutschen, Israelis und Palästinensern, verwebt geschickt Privates der 2014 von Jaffa nach Berlin gezogenen Dramatikerin, mit politisch-historischen Krisen.
Regisseurin Marie Bues, die künstlerische Leiterin des koproduzierenden Stuttgarter Theaters Rampe, inszeniert die Uraufführung des Textes in einem Körperwelten-Albtraum. Die Spieler*innen tragen blutrote Kostüme, an denen sich die herausgequollenen Gedärme abzeichnen und die mit Wunden übersät sind. Die israelische Künstlerin Moran Sanderovich, die mit Ben Yishai schon vor einigen Jahren im Gorki Studio zusammenarbeitete, schuf eindrucksvolle Objekte und Kostüme, die den zweistündigen Abend allein schon sehenswert machen.
„Wounds are forever“ ist aber auch ein starker Text. Dass Sivan Ben Yishai eine begabte Autorin ist, hat sie sie ihrer Entdeckung bei den Autorentheatertagen des Deutschen Theaters Berlin 2017 mehrmals bewiesen. Das neue Stück ist ihr wohl bisher reifstes und gelungenstes Werk. Anspielungsreich schlägt die Autorin tiefe Schneisen durch die Gewaltgeschichte und erzählt konsequent aus der Perspektive der Opfer: der Opfer des nationalsozialistischen Verfolgungswahns, der Opfer blinden Antisemitismus, der Opfer, deren Flucht ins Exil zur Irrfahrt mit der St. Louis geriet, der Opfer israelischer Besatzungspolitik, der Opfer, die im Mittelmeer vor der Festung Europa ertrinken.
Als Klammer hält ein Superheldinnen-Alter ego der Autorin, die mit Schäferhund durch die Geschichte rast, mit den Partisanen-Hexen gegen Nazis kämpft und mit letzter Kraft das rettende Ufer von Palästina erreicht, den Plot zusammen, der oft surreale Motive in reale Historie hineinblendet.
Die Autorin ist aber auch ganz real im Stück präsent: per Videoschalte spielt sie ihre eigenen Eltern, die auf Samuel Koch, den seit seinem „Wetten dass?“-Stunt querschnittsgelähmten Schauspieler, als Tochter einreden. Ihre Mischung aus Elternstolz und sarkastischen, bohrenden Fragen, ob sich die Tochter von der deutschen Theaterblase nicht nur als Feigenblatt und willkommene Kritikerin der israelischen Regierungspolitik missbrauchen lässt, führt zu den spannendsten Szenen des Abends. Die pointierten Dialoge der Familie Ben Yishai werden als zusätzliche Reflexionsebene immer wieder in den komplexen Gedankenstrom eingebaut und sind neben der Musik von Rona Geffen ein Leitmotiv, das die Szenen trennt, bevor der Trip durch die Gewaltgeschichte zu den nächsten Etappen ansetzt.
Nach dem enttäuschenden Auftakt mit Ewelina Marciniaks „Die Jungfrau von Orleans“-Übermalung ist „Wounds are forever“ ein Highlight zum Abschluss der Schillertage Mannheim, für Nachtkritik-Chefredakteurin Esther Slevogt sogar ein Stück der Saison. Zum Theatertreffen 2022 wurde dieser Text von Sivan Ben Yishai leider nicht eingeladen, die Jury entschied sich mit Pinar Karabuluts „Like lovers do“-Uraufführung an den Münchner Kammerspielen für einen anderen Ben Yishai-Text, der wenige Monate später herauskam und deutlich schwächer war. Immerhin wurde „Wounds are forever“ aber zum Mülheimer Dramatikpreis, dem wichtigsten Festival für neue Stücke, und zu den Autorentheatertagen ans Deutsche Theater Berlin eingeladen. In Mülheim wurde Ben Yishai sogar mit dem Dramatik-Preis ausgezeichnet, die Jury schwärmte von einem kühnen Parforce-Ritt und lobte die gelungene Verbindung von Kunst und Aktivismus, die beim Theatertreffen in den vergangenen Jahren so oft scheiterte. Kurz danach wurde Ben Yishai auch von der „Theater heute“-Jury zur Dramatikerin des Jahres gewählt.
Bilder: Christian Kleiner