Still Life

Nichts weniger als eine völlig neue Form des menschlichen Zusammenlebens hat sich Marta Górnicka für ihr Spielzeit-Eröffnungsprojekt „Still Life“ vorgenommen. Extensiv zitiert das diesmal ungewöhnlich umfangreiche Programmheft die üblichen Verdächtigen aus Philosophie, Soziologie und Gender Studies, die von den Dramaturg*innen so gerne als Gewährsleute aufgerufen werden: Donna Haraway, der sich vor kurzem auch René Pollesch und das Farn Collective widmeten, Judith Butler, Achille Mbembe und Giorgio Agamben vermessen in ihren Beitrags-Schnipseln den theoretischen Unterbau dieses einstündigen Chor-Abends.

Den großen Krisenbogen schlägt Górnicka in ihrem Libretto, das sie wie üblich live aus dem Publikums-Saal des Gorki Theaters dirigiert. Vom Kolonialismus zur Digitalisierung, von den Auschwitz-Überlebenden, die als Puppen zu Wort kommen, bis zu den Tieren, die vom Aussterben bedroht, als Nutztiere missbraucht oder im Naturkundemuseum ausgestopft werden, lässt sie kaum ein Thema aus, an dem sie ihre Kritik an Kapitalismus, Ausbeutung und Patriarchat festmachen kann.

Leitmotivisch wird der griechische Gott Dionysos immer wieder zitiert, dem sich auch Christopher Rüping in seinem – wie es der Zufall der Spielzeit-Planung manchmal will – im Frankfurter Mousonturm-Sommerbau wiederaufgenommenen „Dionysos Stadt“ – Marathon widmet. Letztlich steht die Fülle der Themen jedoch zu unvermittelt nebeneinander. Im Staccato und oft in roboterhaftem Loop brüllen die Performerinnen und Performer dem Publikum die bekannten Krisen-Symptome entgegen.

Das Ensemble besteht aus fünf Mitgliedern des Political Voice Institute, das Górnicka als Artist in Residence 2019 am Gorki Theater gegründet hat und dabei leider im Anfangsstadium von der Pandemie ausgebremst wurde, den bekannten Gorki-Ensemble-Spielerinnen Sesede Terziyan und Vidina Popov sowie Lindy Larsson Forss, der schon mehrfach wie in „Roma Armee“ am Gorki gastierte und nun seinen Einstand im Ensemble gibt.

„Still Life“ mündet immerhin in einem starken Schlussbild: in einer eindrucksvollen digitalen Animation erwachen die Tiere, die im Berliner Naturkundemuseum zu Exponaten erstarrt sind, zum Leben, brechen aus ihren Vitrinen an der Bühnenrückwand aus und verteilen sich als Projektionen im Saal. Ein friedlicheres Zusammenleben zwischen Mensch und Natur ist die zentrale Forderung in Górnickas energisch vorgetragenem Manifest für eine „Re-invented Society“, die der polnischen Choreographin und Regisseurin vorschwebt.

Doch gleich nach diesem versöhnlichen Ende wird das Publikum durch eine traurige Nachricht aufgeschreckt: nicht die Intendantin Shermin Langhoff bahnt sich ihren Weg durch die trampelnden Gorki-Fans, sondern Sesede Terziyan kommt nach vorne an die Rampe. In Vertretung lädt sie zum Sektempfang im Garten. Die Intendantin, ihr Direktorium und viele zentrale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Gorki Theaters stehen unter Quarantäne. Keine guten Vorzeichen für diese Spielzeit, da sich die vierte Corona-Welle mit der Delta-Mutante aufbaut.

Vorschaubild mit Sesede Terziyan: Esra Rotthoff

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