Der Tartuffe oder Kapital und Ideologie

Zum Abschluss-Wochenende des Theatertreffens 2022 wurde noch einmal sehr deutlich, warum der aktuelle Jahrgang auch als Musical- und Comedy-Treffen in die Geschichtsbücher eingehen wird. Der prestigeträchtige letzte Slot ging wie schon 2019 an das Staatsschauspiel Dresden, das es zuletzt regelmäßig in die Champions League schaffte, obwohl es nicht ganz so üppig ausgestattet ist wie manche Metropolen-Häuser.

In der ersten Hälfte bieten uns Volker Lösch und sein Ensemble ein unterhaltsames Polit- und Zeitgeschichtskabarett: von Molières Original sind nur noch einige Motive und die Namen der Figuren erhalten. Soeren Voima versetzt das Komödien-Personal in die Vorwende-Zeit und lässt in einer pointenreichen Vers-Dichtung die vergangenen Jahrzehnte Revue passieren. Der Schaubühnen-Dramaturg Christian Tschirner, der sich hinter diesem Pseudonym verbirgt, hatte dabei ein besseres Händchen als zuletzt bei seiner „Queen Lear“-Überschreibung am Gorki Theater.

Von der 68er-bewegten Kommune um den Tantra-Guru Damis (Yassin Trabelsi), die sich unter dem Dach von Madame Pernelle (Thomas Eisen in einer etwas zu „Charleys Tante“-haften Drag-Rolle) und Orgon (Jannik Hinsch) breitmachte, geht es über die Biedermeier-Bräsigkeit, in der sich die alte Bundesrepublik während Helmut Kohls Kanzlerschaft eingerichtet hat, bis zu den Life-Style-Phrasen neoliberaler Selbstoptimierung, die mit dem Rot-Grünen Projekt von Schröder/Fischer und dem Start-up- und Dot.com-Hype zur Jahrtausendwende einhergingen. Zwangsläufig führt die ganze überhitzte Blase, die von Tartuffe (Philipp Grimm) angetrieben wird, im Lehman-Crash, so dass die Wohn- und Eigentümergemeinschaft vor einem Scherbenhaufen steht.

Nach einer Casting-Show-Parodie, in der der ganze Zynismus dieser Formate etwas zu platt illustriert wird, kommen die Ensemble-Mitglieder einzeln zurück auf die Bühne: sie referieren in einer faktenreichen Vorlesung politischer Ökonomie und Theorie die Grundzüge von Thomas Pikettys „Das Kapital im 21. Jahrhundert“, das 2014 zum Bestseller wurde, und „Kapital und Ideologie“ (2020). Auf den reitenden Boten des Sonnenkönigs, den wir aus dem Molière-Original kennen, dürfen Orgon und seine Sippe nicht hoffen. Sie müssen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und an einer Änderung der politischen Verhältnisse arbeiten. So steht der Abend in der Tradition von Brechts Lehrstückem.

Volker Lösch, der wegen Arbeiten wie „Das blaue Wunder“ von einigen als Agit-Prop-Regisseur geschmäht wurde, wurde mit der zweiten Theatertreffen-Einladung nach 2009 („Marat, was ist aus unserer Revolution geworden?“, Schauspielhaus Hamburg) belohnt. Ihm gelingt mit „Der Tartuffe oder Kapital und Ideologie“ der Spagat zwischen gefälligem Unterhaltungstheater, das Comedy mit einem Best-of der Chart-Hits der 80, 90 und 00er Jahre unterlegt, und politischer Reflexion. Überraschend ist, wie bruchlos der Übergang von Comedy zu Lecture im Schluss-Drittel funktioniert. Dass dies gelingt, ist durchaus bemerkenswert an dieser Inszenierung, die zu den sehenswerteren Arbeiten der aktuellen Saison zählt. Die erste Hälfte ist zwar manchmal etwas platt geraten, aber nie so banal wie die Basler Tartuffe-Übermalung von PeterLicht und Claudia Bauer, die 2019 ein Theatertreffen-Tiefpunkt, war. Dass hier ernste gesellschaftspolitische Anliegen verhandelt werden, schimmert auch in den schwächeren und banaleren Passagen von Löschs Inszenierung durch.

Bild: Sebastian Hoppe

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