Locker tänzelt Florentina Holzingers Ensemble in einen Premierenabend hinein. Annina Machaz lädt als weiblicher Captain Hook im Piratenlook zu einer Casting-Show. Die drei Jurorinnen nehmen Platz: Inga Busch, langjährige Pollesch-Weggefährtin, Renée Copraij, die aus den letzten Holzinger-Arbeiten bekannt ist, und schließlich die kleinwüchsige Performerin Saioa Alvarez Ruiz. Im Stil der sattsam bekannten Formate beurteilen sie die Varieté- und Burlesque-Einlagen ihrer Kolleginnen. Wie bei Holzinger üblich, sind sie und ihre Mitstreiterinnen nackt.
Eine halbe Stunde plätschert diese Exposition vor sich hin, bis Holzinger einen Zahn zulegt und zu einer ihrer gefürchteten Radikal-Performances ansetzt. Netti Nüganen wird in einem Wasser-Bassin gefesselt und angekettet, innerhalb von zwei Minuten muss sie sich befreien. Zunächst scheint die Selbstbefreiungsaktion reibungslos zu klappen, doch dann spitzt sich die Situation dramatisch zu. Die Performerin ringt um Luft. Bühnentechniker rennen herbei und Holzinger springt selbst ins Bassin, um ihre Kollegin herauszuziehen. Der Premieren-Abend scheint knapp an einer Katastrophe vorbei zu schrammen, aber die Aktion stellte sich als sehr realistisch inszeniert heraus.
Im langen Mittelteil hängt der Abend durch und droht im seichten Gewässer zu stranden. Fünf Dramaturg*innen weist der Abendzettel aus (vier aus Holzingers Compagnie, eine festangestellte Volksbühnen-Mitarbeiterin): trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen? – wirkt der Abend ziellos. Dies und jenes wird angetippt. Dramaturgisch ist der Abend alles andere als ausgereift: Kinder-Statistinnen werden als Crew der Piratin herbeigerufen und wirken in dem dezidiert nicht jugendfreien Abend wie Fremdkörper, eine Freiwillige aus dem Publikum zieht ebenfalls blank und planscht mit Holzingers Equipe, der Mythos von Leda und die Tragödie der Ophelia werden zitiert, doch es bleibt bei losen Fäden.
Als der Abend zu versanden droht, ziehen sich Holzinger und ihr Team am eigenen Schopf aus der Misere. In Hollywood-artigen Breitband-Szenen, mit Helikopter-Einsatz und zu Helene Fischers „Atemlos“ baut die Wiener Choreographin starke, wuchtige Szenen. Auch thematisch kristallisiert sich die Todessehnsucht als Bindeglied mehrerer autobiographischer – oder autofiktionaler? – Geschichten heraus. Subtil ist weiterhin nichts an diesem Abend, aber seine Bildgewalt kommt in der Volksbühne voll zur Geltung.
Jubelnd springt der größte Teil des Publikums nach mittlerweile fast drei Stunden von den Sitzen, der Intendant René Pollesch strahlt zur Eröffung seiner zweiten Spielzeit nach dem holprigen ersten Jahr. Vor einem Jahr scheiterte Holzinger an selber Stelle mt Holzhammer-Pipi-Kacka-Theater in „A Divine Comedy“, in ihrer neuen Produktion droht sie zwar zwischendurch abzustürzen, zeigt aber, dass sie selbst einen so schwer und nur mit dem nötigen Wumms zu bespielenden Raum wie die Volksbühne meistern kann.
Florentina´s got talent, too.
Das sieht auch die Theatertreffen-Jury so: schon vor der PK galt Holzinger als heißeste Anwärterin auf einen Platz in der 10er Auswahl. Nach „Tanz“ ist sie mit „Ophelia´s got talent“ zum zweiten Mal zum Theatertreffen eingeladen.
Weitere Lorbeeren gab es für „Ophelia´s got talent“ knapp ein Jahr nach der Premiere: sie wurde sowohl als beste Tanz- als auch als beste Theater-Inszenierung der Saison ausgezeichnet, die Wasserlandschaften von Nikola Knezevic wurden als bestes Bühnenbild ausgezeichnet. Auch beim österreichischen Theaterpreis Nestroy ging die Erfolgsserie weiter: Nikola Knežević wurde für die beste Ausstattung ausgezeichnet, Saioa Alvarez Ruiz zur besten Schauspielerin gewählt. Kurz danach folgte noch der Faust 2023 für Florentina Holzinger als beste Choreographin des Jahres.
Bilder: © Nicole Marianna Wytyczak