Bones and All

Sehr unterschiedliche Genres versucht der italienische Regisseur Luca Guadagnino in „Bones and All“ zusammenzubinden: zunächst ist es ein klassisches Selbstfindungs-Roadmovie quer durch die abgehängten „Fly over countries“ im Mittleren Westen der USA. Maren (Taylor Russell) ist ganz auf sich gestellt: Ihr Vater hinterließ ihr nur einen Walkman – der Film spielt also in den 1980ern -, auf dem er ihr erklärt, was sie zur Außenseiterin macht und warum er nicht mehr die Kraft hat, ihr beizustehen. Sie macht sich auf, nach ihren Wurzeln zu suchen, vor allem nach ihrer Mutter, die sie in einer psychiatrischen Anstalt aufspürt.

Der Film ist aber auch: eine Coming of-Age-Romanze über die erste Liebe, in der sich Maren und Lee anschmachten. Für die Rolle ihres männlichen Gegenparts ist natürlich Timothée Chalamet im Vokuhila-Look mit zerrissener Jeans prädestiniert. Er wurde bekanntlich in Guadagninos „Call me by your name“ zum Star. Die beiden vereint, dass sie Kannibalen sind. Das führt zur dritten Zutat dieses wilden Genre-Mixes: sehr drastisch spritzt das Blut, wenn Lee seinem Flirt (Jake Horowitz) beim Sex im Kornfeld unmittelbar vor dem Höhepunkt die Halsschlagader durchtrennt. Kaum ein Detail bleibt dem Publikum erspart, wenn Sully (Mark Rylance) seine Zähne in das Fleisch der alten Witwe schlägt, die seit Stunden hilflos am Boden in ihrer Wohnung lag. Den meisten Opfern dieser Körperfresser ist gemeinsam, dass sie schlicht nicht vermisst werden, so dass die Kannibalen in der anonymen Masse abtauchen können, bis sie Hunger und Gier wieder zuschlagen lassen. Schließlich ist „Bones and All“ viertens auch ein Stalker-Thriller: Sully, der nur in der dritten Person von sich spricht, verfolgt das junge Pärchen und ist völlig fixiert auf Maren.

Oft schwelgt Guadagnino all zu lang in der zärtlichen Annäherung des Pärchens zu süsslichen Klängen. Es gelingt ihm jedoch letztlich immer, das Ruder noch herumzureißen und mit einer besonders drastischen Körperfresser-Szene oder dem Auftauchen neuer zwielichtiger Figuren (z.B. Michael Stuhlbarg und David Gordon Green) auch die anderen Genres zu ihrem Recht kommen zu lassen und die Balance zu halten.

Ein Meisterwerk wie das kürzlich wiederaufgeführte „Trouble every day“ von Claire Denis, die über Sex, Begehren, Rausch und Animalität reflektierte und schilderte, wie Küsse zu Bisse werden können, ist „Bones and All“ nicht. Aber Guadagnino liefert einen der ungewöhnlicheren Filme des Kino-Jahres, der schon durch sein Spiel mit den Genres und seine Bildgewalt heraussticht. In Venedig wurde er mit dem Silbernen Bären für die Beste Regie ausgezeichnet, die Kanadierin Taylor Russell, die 2019/20 bereits in „Waves“ auffiel, wurde als beste Nachwuchsschauspielerin mit dem Marcello Mastroianni-Preis prämiert.

Bild: © Yannis Drakoulidis/​Metro Goldwyn Mayer Pictures

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